Eine Kurzgeschichte über Kaffee und Angst
Es ist einer dieser Tage, an denen ich viel zu spät aufwache. Frustriert, dass ich immer noch ich bin. Frustriert, dass ich hier bin und nicht irgendwo anders. Draußen ist es kalt. Und da ich so spät wachgeworden bin, wird es in zwei Stunden schon wieder dunkel sein. Wie jeden anderen Tag auch in den letzten Wochen. Mein Kühlschrank ist leer. Die Spüle ist voll. 24 verschiedene Nachrichten und zwei verpasste Anrufe auf meinem Handy, die ich wohl niemals beantworten werde. Doch heute ist etwas anders.
Ich möchte hier raus.
„Du musst mal das Haus verlassen“, sage ich zu mir selbst. „Das wird dir gut tun.“.
Ja, vielleicht wird es das. Ich könnte in die Stadt gehen. Der Weihnachtsmarkt steht schon und die Innenstadt wird mit bunten Lichtern geschmückt sein. Das wird schön. Vielleicht kauf ich mir einen kleinen Kaffee. Vielleicht etwas mit Zimt, oder Lebkuchensirup oder Marzipan. Ja, das klingt wundervoll. Den Kaffee kann ich dann einfach mitnehmen, dann haben meine Hände beim Spazierengehen etwas zu tun. Das klingt wie etwas, das gesunde Personen so tun.
Das wird toll. Schön. Cool.
Ich schaue in meinen Kleidungsschrank und blicke auf die geringe Auswahl an Kleidung, die noch nicht hinter mir schmutzig im Wäschekorb liegt. Ich suche einen großen, schlabbrigen Pullover und eine schwarze Leggins heraus, die einzige Kleidung, in der ich mich momentan wohl fühle und schlüpfe in flauschige Kuschelsocken. Ich ziehe meinen warmen Mantel an, wickle mir meinen großen Wollschal um den Hals und steige in meine Stiefel. Eine schwarze Mütze bedeckt meine ungekämmten Haare. Zum ersten Mal in einer ganzen Weile lasse ich meine einsame Wohnung hinter mir.
Die Luft fühlt sich eisig an auf meiner Haut, doch mit dem Bus möchte ich heute nicht in die Innenstadt fahren. Zu viele Menschen, die nur darauf warten mich anzustarren und zu verurteilen. Wofür sie mich verurteilen sollten, weiß ich selbst nicht so genau. Jedenfalls sind mir das im Bus viel zu viele laute Geräusche. Ich gehe lieber durch die Kälte.
Die letzten Monate waren gut. Eigentlich geht es mir ja auch gut. Jede Person hat Tage, an denen es ihr mal ein wenig schlechter geht. An denen es Rückfälle gibt. Das ist normal, das ist okay und das geht vorbei. Rückfälle sind Teil des Fortschritts. Und hey, ich hab das Haus verlassen und schreite durch die Öffentlichkeit. Zwar schnellen Schrittes und mit gesenktem Blick. Aber immer hin. Trotzdem ein guter Anfang.
Auch wenn ich sicher weiß, dass bald wieder bessere Zeiten kommen, mache ich mir manchmal Gedanken, wie es wäre, wenn ich komplett gesund wäre. Eine normale, angstfreie junge Frau. Eine Frau, die Ihren Freunden und Freundinnen antwortet, wenn sie ihr schreiben. Eine Frau, die auch hingeht, wenn sie auf eine Party eingeladen wird. Eine junge Frau, die Spaß hat und Dinge erlebt. Eine Frau, die glücklich ist. Eine Frau, für die Kaffee trinken kein verdammtes Highlight ist.
„Sie haben noch jede Menge Zeit im Leben. Sie werden das alles irgendwann wieder tun.“, sagt meine Therapeutin. Doch ich weiß nicht so recht. Werde ich das wirklich?
In die Stadt zu gehen und einen Coffee to go in einem kleinen Café zu bestellen, ist wohl das emotional Aufregendste, das ich mir momentan so vorstellen kann.
Und schon bald steh ich vorm Café und bin drauf und dran genau das zu tun. Wahnsinn.
Ich atme tief ein, langsam wieder aus und öffne letztendlich die schwere Tür des kleinen Lokals, das ich früher recht regelmäßig besuchte. Ich gehe vorsichtig hinein und sehe, dass die Barista mir freundlich zulächelt. Gut, das hilft. Ich schaue mir die Getränketafel hinterm Tresen an und hoffe, dass sie mich nicht anspricht, bevor ich nicht genau weiß was ich bestellen möchte. Das wäre mehr soziale Interaktion als in dieser Situation unbedingt nötig. Sie tut es nicht und lässt mir Zeit. Ich bestelle einen Marzipan Cappuccino und traue mich sogar hinzuzufügen, dass ich gerne Hafermilch anstatt normale Milch im Getränk hätte und bin stolz darauf. Sie fragt nach meiner Stempelkarte und ich sage „Ich habe keine.“, nehme eine neue entgegen, obwohl bereits zwei andere in meinem Portemonnaie versauern.
Ich hab’s geschafft. Jetzt muss ich nur noch still dastehen und warten. Das kann ich.
Ich nutze die Zeit, um mich kurz umzusehen und glaube meinen Augen kaum, als meine Blicke auf meinen ehemaligen Lieblingstisch, ganz hinten am Fenster bei der weichen roten Samtcouch und den zwei Steckdosen für Handy und Laptop, landen. Ich sehe dich dort sitzen. Reflexartig drehe ich meinen Kopf zurück nach vorne, wie ich es immer tue, wenn ich jemanden erblicke, den ich von früher kenne. Doch ich weiß, es ist zu spät. Unsere Blicke hatten sich bereits getroffen. Also drehe ich meinen Kopf rasch wieder um, in gespielter Verblüffung, als hätten meine eingerosteten Synapsen erst ein paar Sekunden gebraucht. um deinen Anblick zu verarbeiten.
„Celeste!“, rufe ich aus und gehe ungewohnt bestimmten Schrittes auf dich zu.
Du sitzt hier im Café. Einfach am Tisch. Am Tisch mit dem großen Fenster. An meinem Tisch. Mit einem beinahe leeren Glas Latte Macchiatto in der Hand.
Jemand sitzt dir gegenüber.
Doch das ist nicht wichtig, denn du sitzt da, als würde man das einfach so tun. Als würde man einfach in Cafés gehen und sich hinsetzen, die Beine überkreuzen und am Glas nippen. Und dann fällt mir ein, dass Menschen das tatsächlich so tun.
Normale Menschen brauchen keinen Mut, um einen Marzipan Cappuccino to go mit Hafermilch anstatt Kuhmilch zu bestellen. Nein, sie setzen sich mit Ihrem Getränk an einen Tisch, ungeachtet dessen, ob andere Menschen sie anstarren oder nicht. Wahrscheinlich geben sie sogar ihre Stempelkarte hin, wenn sie eine haben und danach gefragt werden. So wie du. Du sitzt einfach mit deinem Latte Macchiatto in einem Café.
„Wie schön dich zu sehen.“
Die nächsten Minuten fühlen sich an wie dichter Nebel. Ich weiß nicht so recht was ich sage. Ich scheine ganz schön viel zu sagen, denn mein Mund bewegt sich unentwegt und gleichzeitig habe ich das Gefühl ich sage rein gar nichts Sinnvolles. Ich weiß nicht, was du auf mein Wirr Warr an Worten und Gesten antwortest. Ich hab keine Ahnung, wer dir da überhaupt gegenübersitzt und mich gerade verwirrt anstarrt. Ich weiß jedoch, dass irgendwer von uns beiden letztendlich sagt „Es ist ganze fünf Jahre her.“
5 Jahre. Und diese gesamte Zeit lang hatte ich keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe. Du siehst so anders aus und doch ist mir dein Gesicht so vertraut. Du wirkst schöner und strahlender als jemals zuvor. Du scheinst so erwachsen. Du bist stilvoll angezogen. Okay, stilvoll angezogen warst du schon immer. Auch damals im Hörsaal.
Ein langes dunkelgrünes Kleid schmiegt sich an deine Kurven, deine lockigen, roten Haare hast du locker nach oben gesteckt. Dunkelroter Lippenstift rahmt dein breites, freundliches Lächeln ein.
Du hast auch zur Uni Lippenstift getragen. Ich jedoch, war stets zu schüchtern dazu.
Du sitzt einfach da, wie eine von diesen wunderbar bezaubernden Frauen, über die Bücher, Gedichte oder Songs geschrieben werden. Oder halt Kurzgeschichten.
Ich starre dich viel zu lange an, entschuldige mich für mein verlottertes Aussehen und dafür, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber „du weißt ja wie’s so ist.“ Du lachst und im Nuh ist der Nebel wieder da. Ich habe keinen wirklichen Schimmer was du sagst, was ich sage, aber es scheint trotzdem zu funktionieren.
„Ich muss tatsächlich auch schon wieder weiter.“ Dieser Satz kommt definitiv von mir. Das weiß ich. Da bin ich mir sicher, denn diesen Satz sage ich gerne. Er ist wie ein bester Freund, auf den man sich immer verlassen kann. Es gibt ihn sogar in verschiedenen Ausführungen: „Ich kann leider heute nicht so lang.“ „Ich hab nachher dummerweise noch was vor.“, „Ich hab heut wirklich nur knapp eine Stunde Zeit.“. Je nachdem in welcher Auslegung man ihn braucht, er ist da.
Versteh‘ mich nicht falsch, ich sage diesen Satz nicht, weil ich mich nicht freue dich zu sehen oder nicht mehr mit dir sprechen möchte. Ich sage diesen Satz, weil ich überfordert bin. Dieser Satz ist mein Notausgang aus Situationen, die ich nicht bewältigen kann und ich glaube, das weißt du. Du verstehst mich richtig und das hast du schon immer. Ich umarme dich zum Abschied, nehme dein blumiges Parfum wahr und greife mir meinen fertigen Kaffee vom Tresen, den ich schon fast wieder vergessen hatte.
Sobald ich durch den Notausgang gehe und wieder einen Fuß auf die Straßen der Stadt setze, spüre ich den Drang dir zu schreiben. Dir zu schreiben, um klarzustellen, dass ich dir eigentlich noch viel mehr sagen und viel länger bleiben wollte. Und das tue ich dann auch. Meine leicht zitternden Finger fliegen über den Bildschirm meines Handys. Schreiben fällt mir einfacher als sprechen. Ich will dir eigentlich auch schreiben, dass du die Art Frau bist, über die man Songs oder Bücher oder Kurzgeschichten schreibt. Doch das tue ich nicht, denn das ist komisch und unangenehm.
In dem Moment, in dem ich mein Handy zurück in die Manteltasche stecke, merke ich wie schnell ich atme, wie schnell mein Herz schlägt und wie schnell mich meine kleinen Beine ziellos durch die Innenstadt tragen. Der Cappuccino in meinem Becher schwappt hin und her und ich spüre das heiße Nass über meine Finger laufen.
Es ist aufregend und erschreckend zugleich, dass man über Monate lang der festen Überzeugung sein kann, man würde alleine zurechtzukommen. Dass man fest daran glauben kann, dass alles genau so ist wie es sein sollte. Exakt so, wie es gut ist.
Und dann kommt jemand wie du. Und sitzt in einem Café. Und lächelt mich an. Und ich kenne dieses Lächeln. Es erinnert mich an Live-Musik in Irischen Pubs, an Tequila mit Salz und dem Saft einer Zitrone, an „Ich habe noch nie eine andere Frau geküsst“, an Lippenstift, rotes Haar, grüne Augen und an „Ich bring dich sicher nach Hause. Komm mit.“
Es fühlt sich an wie ein kleiner Windhauch auf meiner Nase. Wie der Flügelschlag eines zarten Fuchsfalters. Kaum merkbar und doch genug, um mich ins Taumeln zu bringen. Und dann lauf ich durch die Straßen des Zentrums einer Stadt, die ich nie hinter mir lassen konnte, obwohl ich mir immer schwor hier wegzuziehen, als würde ich fliehen und nicht genau wissen wovor.
Ich bin ganz aufgeregt, wie geladen und unter Spannung. Wie eine geschlossene Cola-Flasche mit 12 Mentos intus. Mein ganzer Körper kribbelt, doch es tut so gut. Das ist so viel mehr als ich die gesamten letzten Wochen spürte.
Ich kann nicht aufhören zu laufen. Das ist ein Problem. Meine Beine wollen einfach nicht langsamer werden. Mein Marzipan Cappuccino, von dem ich vergessen habe auch nur einen Schluck zu kosten, ist mittlerweile schon halb über meine Hand gelaufen und die schmerzende Hitze rüttelt mich wach.
Endlich zwinge ich mich stehen zu bleiben und kurz durchzuatmen. „Sammel dich mal.“ Und das tue ich.
Zum ersten Mal nehme ich mir die Zeit und schaue hoch, anstatt nur auf den Asphalt. Ein kleines Lächeln macht sich unverzüglich auf meinem Gesicht bemerkbar.
Die Straßen vor mir erleuchten in bunten Weihnachtslichtern und überall begegnen mir glückliche Gesichter von zufriedenen Menschen, die zusammen mit ihren Liebsten gemeinsam an Schaufenstern vorbei schlendern. Niemand von ihnen starrt mich an, zumindest nicht allzu lang.
Ich nehme den ersten Schluck meines Cappuccinos und er schmeckt wunderbar. Von irgendwoher steigt mir der süße Duft gerösteter Mandeln in die Nase.
Mann, es ist echt schön hier. Das könnte ich öfter mal machen. Vielleicht mit dir. Oder mit anderen Leuten von früher. Bei denen könnte ich mich auch mal wieder melden. Es ist schon so lange her und eigentlich war die Zeit mit euch doch so schön.
*Ding*
Eilig krame ich mein Handy aus der Manteltasche. Eine Nachricht von dir! Du hast tatsächlich geantwortet!
„Wenn du bereit für einen Kaffee mit mir bist, dann sag einfach Bescheid :)“
Ich bin bereit. Ich bin so bereit wie noch nie. Celeste, ich würde am liebsten sofort in das Café zurück rennen und mich mit dir an den Tisch setzen, wie normale Menschen es nun einmal tun, und du könntest dem Typen an deiner Seite sagen, er solle Platz machen, denn ich sei ja jetzt da und er nicht mehr notwendig. Ich bin bereit.
„Okay :)“, antworte ich ganz cool und gehe weiter, jetzt langsamer, durch die erleuchteten Straßen. Ich genieße die Umgebung, sehe das Glänzen der Lichter, höre das Lachen zufriedener Menschen. Es geht mir gut. Jetzt wirklich.
Eine ganze Weile laufe ich noch umher und je länger ich schlendere und je tiefer ich die kühle Luft einatme, desto mehr beruhigt sich mein Herz. Ich spüre, wie meine Schritte kraftloser werden und mein Kopf müde. Eher unbewusst schlage ich den Weg zurück nach Hause ein. Mit jedem Schritt komme ich meiner Wohnung näher. Mit jedem Schritt kehre ich den bunten, hellen Lichtern der Innenstadt, und auch dir, den Rücken zu. Doch das Lächeln auf meinem Gesicht bleibt.
In dem Moment, in dem ich in meine Straße einbiege, kommt mir plötzlich ein Gedanke.
Warum hast du eigentlich so lange gebraucht, um auf meine Nachrichten zu antworten? Du warst scheinbar nicht so aufgeregt wie ich. Sonst hättest du doch sofort geschrieben.
Mit einem Mal werden meine Wangen eiskalt als der Wind stärker bläst und ich an meiner Haustür ankomme. Meine kalten Finger tasten nach den Schlüsseln in meiner Manteltasche und öffnen die Tür. Mit jeder einzelnen Treppenstufe, die ich hoch zu meiner Wohnung gehe, lasse ich das Wiedersehen revue passieren.
Wenn ich so drüber nachdenk‘ und die Situation nochmal durchgehe, warst du irgendwie gar nicht so froh mich zu sehen. Du hast zwar gelächelt und mich fest umarmt, aber was hättest du auch sonst tun sollen? Du wolltest nett sein. Wahrscheinlich ist das mit dem ‚Kaffee trinken gehen‘ auch nur eine Floskel. Etwas was man halt so sagt, aber nicht wirklich ernst meint. Und außerdem hast du ja offensichtlich jemanden zum Kaffee trinken gehen, wozu brauchst du dann mich?
Vielleicht hätte ich ja was anderes anziehen sollen. Ich hätte mich schminken sollen. Ich hätte nicht stottern sollen. Ich hätte mich einfach nicht so unfassbar dumm anstellen sollen. Dann hättest du dich vielleicht wahrhaftig gefreut mich zu sehen. Aber was soll ich machen, ich bin halt nicht wie du. Ich bin nicht schöner und strahlender und erwachsener geworden. Ich bin niemand, über den man Kurzgeschichten schreibt.
Ich öffne die Tür zu meiner Wohnung und angenehm warme Luft trifft auf mein eisiges Gesicht und meine fast tauben Finger. Ich seufze erleichtert. Oder enttäuscht? Wieder daheim.
Ich häng‘ die Schlüssel an den Haken neben der Tür und schließe sie hinter mir. Ich schäle mich aus den Lagen warmer Kleidung heraus und schaue resigniert in den großen Spiegel in meinem Flur.
„Ich hab noch genug Zeit, irgendwann wieder mit jemandem Kaffee trinken zu gehen.“ Ganz sicher.