Celeste

Eine Kurzgeschichte über Kaffee und Angst

Es ist einer dieser Tage, an denen ich viel zu spät aufwache. Frustriert, dass ich immer noch ich bin. Frustriert, dass ich hier bin und nicht irgendwo anders. Draußen ist es kalt. Und da ich so spät wachgeworden bin, wird es in zwei Stunden schon wieder dunkel sein. Wie jeden anderen Tag auch in den letzten Wochen. Mein Kühlschrank ist leer. Die Spüle ist voll. 24 verschiedene Nachrichten und zwei verpasste Anrufe auf meinem Handy, die ich wohl niemals beantworten werde. Doch heute ist etwas anders.

Ich möchte hier raus.

„Du musst mal das Haus verlassen“, sage ich zu mir selbst. „Das wird dir gut tun.“.

Ja, vielleicht wird es das. Ich könnte in die Stadt gehen. Der Weihnachtsmarkt steht schon und die Innenstadt wird mit bunten Lichtern geschmückt sein. Das wird schön. Vielleicht kauf ich mir einen kleinen Kaffee. Vielleicht etwas mit Zimt, oder Lebkuchensirup oder Marzipan. Ja, das klingt wundervoll. Den Kaffee kann ich dann einfach mitnehmen, dann haben meine Hände beim Spazierengehen etwas zu tun. Das klingt wie etwas, das gesunde Personen so tun.

Das wird toll. Schön. Cool.

Ich schaue in meinen Kleidungsschrank und blicke auf die geringe Auswahl an Kleidung, die noch nicht hinter mir schmutzig im Wäschekorb liegt. Ich suche einen großen, schlabbrigen Pullover und eine schwarze Leggins heraus, die einzige Kleidung, in der ich mich momentan wohl fühle und schlüpfe in flauschige Kuschelsocken. Ich ziehe meinen warmen Mantel an, wickle mir meinen großen Wollschal um den Hals und steige in meine Stiefel. Eine schwarze Mütze bedeckt meine ungekämmten Haare. Zum ersten Mal in einer ganzen Weile lasse ich meine einsame Wohnung hinter mir.

Die Luft fühlt sich eisig an auf meiner Haut, doch mit dem Bus möchte ich heute nicht in die Innenstadt fahren. Zu viele Menschen, die nur darauf warten mich anzustarren und zu verurteilen. Wofür sie mich verurteilen sollten, weiß ich selbst nicht so genau. Jedenfalls sind mir das im Bus viel zu viele laute Geräusche. Ich gehe lieber durch die Kälte.

Die letzten Monate waren gut. Eigentlich geht es mir ja auch gut. Jede Person hat Tage, an denen es ihr mal ein wenig schlechter geht. An denen es Rückfälle gibt. Das ist normal, das ist okay und das geht vorbei. Rückfälle sind Teil des Fortschritts. Und hey, ich hab das Haus verlassen und schreite durch die Öffentlichkeit. Zwar schnellen Schrittes und mit gesenktem Blick. Aber immer hin. Trotzdem ein guter Anfang.

Auch wenn ich sicher weiß, dass bald wieder bessere Zeiten kommen, mache ich mir manchmal Gedanken, wie es wäre, wenn ich komplett gesund wäre. Eine normale, angstfreie junge Frau. Eine Frau, die Ihren Freunden und Freundinnen antwortet, wenn sie ihr schreiben. Eine Frau, die auch hingeht, wenn sie auf eine Party eingeladen wird. Eine junge Frau, die Spaß hat und Dinge erlebt. Eine Frau, die glücklich ist. Eine Frau, für die Kaffee trinken kein verdammtes Highlight ist.

„Sie haben noch jede Menge Zeit im Leben. Sie werden das alles irgendwann wieder tun.“, sagt meine Therapeutin. Doch ich weiß nicht so recht. Werde ich das wirklich?

In die Stadt zu gehen und einen Coffee to go in einem kleinen Café zu bestellen, ist wohl das emotional Aufregendste, das ich mir momentan so vorstellen kann.

Und schon bald steh ich vorm Café und bin drauf und dran genau das zu tun. Wahnsinn.

Ich atme tief ein, langsam wieder aus und öffne letztendlich die schwere Tür des kleinen Lokals, das ich früher recht regelmäßig besuchte. Ich gehe vorsichtig hinein und sehe, dass die Barista mir freundlich zulächelt. Gut, das hilft. Ich schaue mir die Getränketafel hinterm Tresen an und hoffe, dass sie mich nicht anspricht, bevor ich nicht genau weiß was ich bestellen möchte. Das wäre mehr soziale Interaktion als in dieser Situation unbedingt nötig. Sie tut es nicht und lässt mir Zeit. Ich bestelle einen Marzipan Cappuccino und traue mich sogar hinzuzufügen, dass ich gerne Hafermilch anstatt normale Milch im Getränk hätte und bin stolz darauf. Sie fragt nach meiner Stempelkarte und ich sage „Ich habe keine.“, nehme eine neue entgegen, obwohl bereits zwei andere in meinem Portemonnaie versauern.

Ich hab’s geschafft. Jetzt muss ich nur noch still dastehen und warten. Das kann ich.

Ich nutze die Zeit, um mich kurz umzusehen und glaube meinen Augen kaum, als meine Blicke auf meinen ehemaligen Lieblingstisch, ganz hinten am Fenster bei der weichen roten Samtcouch und den zwei Steckdosen für Handy und Laptop, landen. Ich sehe dich dort sitzen. Reflexartig drehe ich meinen Kopf zurück nach vorne, wie ich es immer tue, wenn ich jemanden erblicke, den ich von früher kenne. Doch ich weiß, es ist zu spät. Unsere Blicke hatten sich bereits getroffen. Also drehe ich meinen Kopf rasch wieder um, in gespielter Verblüffung, als hätten meine eingerosteten Synapsen erst ein paar Sekunden gebraucht. um deinen Anblick zu verarbeiten.

„Celeste!“, rufe ich aus und gehe ungewohnt bestimmten Schrittes auf dich zu.

Du sitzt hier im Café. Einfach am Tisch. Am Tisch mit dem großen Fenster. An meinem Tisch. Mit einem beinahe leeren Glas Latte Macchiatto in der Hand.

Jemand sitzt dir gegenüber.

Doch das ist nicht wichtig, denn du sitzt da, als würde man das einfach so tun. Als würde man einfach in Cafés gehen und sich hinsetzen, die Beine überkreuzen und am Glas nippen. Und dann fällt mir ein, dass Menschen das tatsächlich so tun.

Normale Menschen brauchen keinen Mut, um einen Marzipan Cappuccino to go mit Hafermilch anstatt Kuhmilch zu bestellen. Nein, sie setzen sich mit Ihrem Getränk an einen Tisch, ungeachtet dessen, ob andere Menschen sie anstarren oder nicht. Wahrscheinlich geben sie sogar ihre Stempelkarte hin, wenn sie eine haben und danach gefragt werden. So wie du. Du sitzt einfach mit deinem Latte Macchiatto in einem Café.

„Wie schön dich zu sehen.“

Die nächsten Minuten fühlen sich an wie dichter Nebel. Ich weiß nicht so recht was ich sage. Ich scheine ganz schön viel zu sagen, denn mein Mund bewegt sich unentwegt und gleichzeitig habe ich das Gefühl ich sage rein gar nichts Sinnvolles. Ich weiß nicht, was du auf mein Wirr Warr an Worten und Gesten antwortest. Ich hab keine Ahnung, wer dir da überhaupt gegenübersitzt und mich gerade verwirrt anstarrt. Ich weiß jedoch, dass irgendwer von uns beiden letztendlich sagt „Es ist ganze fünf Jahre her.“

5 Jahre. Und diese gesamte Zeit lang hatte ich keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe. Du siehst so anders aus und doch ist mir dein Gesicht so vertraut. Du wirkst schöner und strahlender als jemals zuvor. Du scheinst so erwachsen. Du bist stilvoll angezogen. Okay, stilvoll angezogen warst du schon immer. Auch damals im Hörsaal.

Ein langes dunkelgrünes Kleid schmiegt sich an deine Kurven, deine lockigen, roten Haare hast du locker nach oben gesteckt. Dunkelroter Lippenstift rahmt dein breites, freundliches Lächeln ein.

Du hast auch zur Uni Lippenstift getragen. Ich jedoch, war stets zu schüchtern dazu.

Du sitzt einfach da, wie eine von diesen wunderbar bezaubernden Frauen, über die Bücher, Gedichte oder Songs geschrieben werden. Oder halt Kurzgeschichten.

Ich starre dich viel zu lange an, entschuldige mich für mein verlottertes Aussehen und dafür, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber „du weißt ja wie’s so ist.“ Du lachst und im Nuh ist der Nebel wieder da. Ich habe keinen wirklichen Schimmer was du sagst, was ich sage, aber es scheint trotzdem zu funktionieren.

„Ich muss tatsächlich auch schon wieder weiter.“ Dieser Satz kommt definitiv von mir. Das weiß ich. Da bin ich mir sicher, denn diesen Satz sage ich gerne. Er ist wie ein bester Freund, auf den man sich immer verlassen kann. Es gibt ihn sogar in verschiedenen Ausführungen: „Ich kann leider heute nicht so lang.“ „Ich hab nachher dummerweise noch was vor.“, „Ich hab heut wirklich nur knapp eine Stunde Zeit.“. Je nachdem in welcher Auslegung man ihn braucht, er ist da.

Versteh‘ mich nicht falsch, ich sage diesen Satz nicht, weil ich mich nicht freue dich zu sehen oder nicht mehr mit dir sprechen möchte. Ich sage diesen Satz, weil ich überfordert bin. Dieser Satz ist mein Notausgang aus Situationen, die ich nicht bewältigen kann und ich glaube, das weißt du. Du verstehst mich richtig und das hast du schon immer. Ich umarme dich zum Abschied, nehme dein blumiges Parfum wahr und greife mir meinen fertigen Kaffee vom Tresen, den ich schon fast wieder vergessen hatte.

Sobald ich durch den Notausgang gehe und wieder einen Fuß auf die Straßen der Stadt setze, spüre ich den Drang dir zu schreiben. Dir zu schreiben, um klarzustellen, dass ich dir eigentlich noch viel mehr sagen und viel länger bleiben wollte. Und das tue ich dann auch. Meine leicht zitternden Finger fliegen über den Bildschirm meines Handys. Schreiben fällt mir einfacher als sprechen. Ich will dir eigentlich auch schreiben, dass du die Art Frau bist, über die man Songs oder Bücher oder Kurzgeschichten schreibt. Doch das tue ich nicht, denn das ist komisch und unangenehm.

In dem Moment, in dem ich mein Handy zurück in die Manteltasche stecke, merke ich wie schnell ich atme, wie schnell mein Herz schlägt und wie schnell mich meine kleinen Beine ziellos durch die Innenstadt tragen. Der Cappuccino in meinem Becher schwappt hin und her und ich spüre das heiße Nass über meine Finger laufen.

Es ist aufregend und erschreckend zugleich, dass man über Monate lang der festen Überzeugung sein kann, man würde alleine zurechtzukommen. Dass man fest daran glauben kann, dass alles genau so ist wie es sein sollte. Exakt so, wie es gut ist.

Und dann kommt jemand wie du. Und sitzt in einem Café. Und lächelt mich an. Und ich kenne dieses Lächeln. Es erinnert mich an Live-Musik in Irischen Pubs, an Tequila mit Salz und dem Saft einer Zitrone, an „Ich habe noch nie eine andere Frau geküsst“, an Lippenstift, rotes Haar, grüne Augen und an „Ich bring dich sicher nach Hause. Komm mit.“

Es fühlt sich an wie ein kleiner Windhauch auf meiner Nase. Wie der Flügelschlag eines zarten Fuchsfalters. Kaum merkbar und doch genug, um mich ins Taumeln zu bringen. Und dann lauf ich durch die Straßen des Zentrums einer Stadt, die ich nie hinter mir lassen konnte, obwohl ich mir immer schwor hier wegzuziehen, als würde ich fliehen und nicht genau wissen wovor.

Ich bin ganz aufgeregt, wie geladen und unter Spannung. Wie eine geschlossene Cola-Flasche mit 12 Mentos intus. Mein ganzer Körper kribbelt, doch es tut so gut. Das ist so viel mehr als ich die gesamten letzten Wochen spürte.

Ich kann nicht aufhören zu laufen. Das ist ein Problem. Meine Beine wollen einfach nicht langsamer werden. Mein Marzipan Cappuccino, von dem ich vergessen habe auch nur einen Schluck zu kosten, ist mittlerweile schon halb über meine Hand gelaufen und die schmerzende Hitze rüttelt mich wach.

Endlich zwinge ich mich stehen zu bleiben und kurz durchzuatmen. „Sammel dich mal.“ Und das tue ich.

Zum ersten Mal nehme ich mir die Zeit und schaue hoch, anstatt nur auf den Asphalt. Ein kleines Lächeln macht sich unverzüglich auf meinem Gesicht bemerkbar.

Die Straßen vor mir erleuchten in bunten Weihnachtslichtern und überall begegnen mir glückliche Gesichter von zufriedenen Menschen, die zusammen mit ihren Liebsten gemeinsam an Schaufenstern vorbei schlendern. Niemand von ihnen starrt mich an, zumindest nicht allzu lang.

Ich nehme den ersten Schluck meines Cappuccinos und er schmeckt wunderbar. Von irgendwoher steigt mir der süße Duft gerösteter Mandeln in die Nase.

Mann, es ist echt schön hier. Das könnte ich öfter mal machen. Vielleicht mit dir. Oder mit anderen Leuten von früher. Bei denen könnte ich mich auch mal wieder melden. Es ist schon so lange her und eigentlich war die Zeit mit euch doch so schön.

*Ding*

Eilig krame ich mein Handy aus der Manteltasche. Eine Nachricht von dir! Du hast tatsächlich geantwortet!

„Wenn du bereit für einen Kaffee mit mir bist, dann sag einfach Bescheid :)“

Ich bin bereit. Ich bin so bereit wie noch nie. Celeste, ich würde am liebsten sofort in das Café zurück rennen und mich mit dir an den Tisch setzen, wie normale Menschen es nun einmal tun, und du könntest dem Typen an deiner Seite sagen, er solle Platz machen, denn ich sei ja jetzt da und er nicht mehr notwendig. Ich bin bereit.

„Okay :)“, antworte ich ganz cool und gehe weiter, jetzt langsamer, durch die erleuchteten Straßen. Ich genieße die Umgebung, sehe das Glänzen der Lichter, höre das Lachen zufriedener Menschen. Es geht mir gut. Jetzt wirklich.

Eine ganze Weile laufe ich noch umher und je länger ich schlendere und je tiefer ich die kühle Luft einatme, desto mehr beruhigt sich mein Herz. Ich spüre, wie meine Schritte kraftloser werden und mein Kopf müde. Eher unbewusst schlage ich den Weg zurück nach Hause ein. Mit jedem Schritt komme ich meiner Wohnung näher. Mit jedem Schritt kehre ich den bunten, hellen Lichtern der Innenstadt, und auch dir, den Rücken zu. Doch das Lächeln auf meinem Gesicht bleibt.

In dem Moment, in dem ich in meine Straße einbiege, kommt mir plötzlich ein Gedanke.

Warum hast du eigentlich so lange gebraucht, um auf meine Nachrichten zu antworten? Du warst scheinbar nicht so aufgeregt wie ich. Sonst hättest du doch sofort geschrieben.

Mit einem Mal werden meine Wangen eiskalt als der Wind stärker bläst und ich an meiner Haustür ankomme. Meine kalten Finger tasten nach den Schlüsseln in meiner Manteltasche und öffnen die Tür. Mit jeder einzelnen Treppenstufe, die ich hoch zu meiner Wohnung gehe, lasse ich das Wiedersehen revue passieren.

Wenn ich so drüber nachdenk‘ und die Situation nochmal durchgehe, warst du irgendwie gar nicht so froh mich zu sehen. Du hast zwar gelächelt und mich fest umarmt, aber was hättest du auch sonst tun sollen? Du wolltest nett sein. Wahrscheinlich ist das mit dem ‚Kaffee trinken gehen‘ auch nur eine Floskel. Etwas was man halt so sagt, aber nicht wirklich ernst meint. Und außerdem hast du ja offensichtlich jemanden zum Kaffee trinken gehen, wozu brauchst du dann mich?

Vielleicht hätte ich ja was anderes anziehen sollen. Ich hätte mich schminken sollen. Ich hätte nicht stottern sollen. Ich hätte mich einfach nicht so unfassbar dumm anstellen sollen. Dann hättest du dich vielleicht wahrhaftig gefreut mich zu sehen. Aber was soll ich machen, ich bin halt nicht wie du. Ich bin nicht schöner und strahlender und erwachsener geworden. Ich bin niemand, über den man Kurzgeschichten schreibt.

Ich öffne die Tür zu meiner Wohnung und angenehm warme Luft trifft auf mein eisiges Gesicht und meine fast tauben Finger. Ich seufze erleichtert. Oder enttäuscht? Wieder daheim.

Ich häng‘ die Schlüssel an den Haken neben der Tür und schließe sie hinter mir. Ich schäle mich aus den Lagen warmer Kleidung heraus und schaue resigniert in den großen Spiegel in meinem Flur.

„Ich hab noch genug Zeit, irgendwann wieder mit jemandem Kaffee trinken zu gehen.“ Ganz sicher.

Kassandrarufe – Wenn man von sexuellem Missbrauch nix hören will.

TW Ein sehr persönlicher Text über mich, mein Leben als Frau und sexuellen Missbrauch.

Vor 24 Jahren, am 18.06.1997, kam ich auf die Welt. Meine Eltern gaben mir den Namen Cassandra. Sie wussten nicht wirklich um seine Bedeutung. Er klang in ihren Ohren schön, einzigartig und stark.

Anfangs konnte ich mich nicht wirklich mit meinem Namen anfreunden. Zu lang, zu schwierig, zu selten. Doch als ich den Ursprung des Namens erfuhr und seine tiefe und besondere Bedeutung verstand, fing ich an, ihn wertzuschätzen.

‚Kassandra‘ auf altgriechisch.

Mein Name stammt aus der griechischen Mythologie: Der Gott Apollon verliebte sich in meine Namensvetterin und verlieh ihr die Gabe der Weissagung, um sie rumzukriegen. Kassandra (deren Schönheit Homer mit jener der Aphrodite verglich), gab ihm jedoch einen Korb. Daraufhin verfluchte Toxic-Masculinity-Apollon seine Gabe, weil er sie Kassandra wohl nicht wieder wegnehmen konnte. Er sorgte dafür, dass sie zwar in die Zukunft sehen konnte, niemand ihren Vorhersagen allerdings je Glauben schenken werde.

Somit warnte sie gegen Ende des Trojanischen Kriegs, die Trojaner vergeblich vor dem Trojanischen Pferd und der Hinterlist der Griechen, sodass Troja unterging. (Und das nur, weil Apollons Ego gekränkt war.)

Aus dieser Sage entwickelte sich der Begriff ‚Kassandraruf‘: So genannte Kassandrarufe sind vor einem Unglück oder schrecklichen Ereignis warnende Vorhersagen, die in der Regel allerdings niemand hören mag und schon gar nicht wahrhaben will.

Nun soll es in diesem Text um sexuellen Missbrauch gehen, also machen wir mal einen mehr oder minder holprigen Übergang:

Der Fluch, der auf Kassandra lag, scheint immer noch auf vielen Frauen zu liegen. Besonders, wenn sie sich dazu entscheiden ihre Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch zu teilen. Sie sprechen von schrecklichen Tragödien, versuchen andere Menschen vor gefährlichen Tätern zu warnen, doch niemand möchte ihnen zuhören, oder gar Glauben schenken.

Wie so viele andere Frauen und weiblich gelesene Personen in Deutschland sowie dem Rest der Welt, wurde auch ich bereits Opfer von sexueller Gewalt. Über meinen Missbrauch rede ich nicht gern, denn ich schäme mich dafür. Ich habe das Gefühl, es passt nicht zu meinem Selbstbild als starke Feministin, an dem ich lange gearbeitet habe.

Doch ich habe keine Lust mehr zu schweigen und mich dafür zu schämen, was mir passiert ist, denn das muss ich nicht. Das muss niemand.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Opfer sich dafür schämen, sexuelle Gewalt zu erfahren. Zugleich ignorieren Täter gänzlich ohne Scham Konsens, um ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen.

Als ich jünger war, war ich jahrelang in einer toxischen Beziehung gefangen, die stark an meinem Selbstbewusstsein und meinem psychischen Wohlbefinden nagte.

Wir hatten von Anfang an einige Probleme miteinander und es hat nie wirklich gut funktioniert. Er hatte viele Probleme und ich hatte viele Probleme. Doch trotzdem haben wir es nicht gepackt den Anderen zu verlassen.

Ich befand mich damals in einem mentalen Stadium, in dem ich sehr wenig von mir selbst hielt und dachte, ich würde niemals einen anderen Menschen finden, der mich lieben könnte. Ich hab nie wirklich geglaubt, dass ich eine ’schlechte‘ oder ‚ungesunde‘ Beziehung verdiene, ich war bloß fest davon überzeugt, dass es alles besser ist, als komplett alleine zu sein.

Mein damaliger Freund, der schon etwas älter war, lud mich, zur Feier unseres zwei-jährigen Jubiläums, auf einen zweiwöchigen Urlaub auf eine spanische Insel ein. Ich freute mich tierisch auf die Zeit und hatte die Hoffnung, dass es nur einen gemeinsamen Urlaub brauchte, um unsere Beziehung zu retten.

Doch leider wurde meine Freude sehr schnell getrübt, denn nach der ersten Nacht mit einvernehmlichen Sex, erwartete er jeden Abend darauf weiteren Sex, als Dank dafür, dass er den Urlaub für mich bezahlte. Wir sahen die ersten zwei Tage kaum etwas von der Insel und er wollte die Ferienwohnung nie verlassen. Ich fühlte mich immer unwohler und als ich am dritten Abend ‚Nein‘ zum Sex sagte, wurde er wütend auf mich und wir fingen an heftig zu streiten.

In dieser Nacht, verging er sich im Schlaf an mir. Er onanierte auf mein Gesicht und meinen Körper. Als ich mitten in der Nacht wach wurde und realisierte was sich auf meinem Gesicht und meinem Kopfkissen befand, bekam ich eine Panikattacke, meine allererste jemals.

Als er bemerkte wie ich darauf reagierte, entschuldigte er sich mehrmals und fing bitterlich an zu weinen, kniete sich vor mir nieder und klammerte sich an mein Bein, sodass letztendlich ich es war, die ihn trösten und beruhigen musste anstatt umgekehrt.

Am nächsten Abend schlief ich mit ihm. Ich hatte das Gefühl, es ihm vielleicht doch schuldig zu sein, Sex mit ihm zu haben. Ich hatte Sorge als undankbar zu gelten, da er ja so viel Geld für mich ausgab. Doch als wir miteinander schliefen, oder eher, als er Sex mit mir hatte, fing ich an zu weinen.

Das störte ihn jedoch nicht. Er ignorierte es.

Ich fühlte mich erniedrigt, hilflos und schämte mich sehr. Ich war so weit von zuhause entfernt, hatte kein Geld, um mir ein kurzfristiges Rückflugticket zu leisten und versicherte meiner Familie am Telefon, dass alles wunderbar wäre, damit sie sich keine Sorgen machten.

Ich versuchte die 2 Wochen so schnell wie möglich hinter mich zu bringen und ich schwor mir, ihn nach dem Urlaub sofort zu verlassen. Doch das passierte nicht. Zu groß war die Angst vor dem Alleinsein und nie wieder jemanden an meiner Seite zu haben.

Nun sitze ich hier, schreibe diese Geschichte auf und versuche mich dafür zu rechtfertigen, warum ich ihn damals nicht verlassen habe. Ich weiß: Ich muss das nicht rechtfertigen. Ich muss das nicht erklären. Es ist irrelevant. Doch die Sorge vor Victim Blaiming lässt es mich trotzdem tun.

Ich fühlte mich daraufhin regelmäßig zum Sex mit ihm gezwungen und fing oft währenddessen an zu weinen. Irgendwann war das Leid letztendlich größer als die Angst alleine zu sein und die Erkenntnis, dass er mich immer wieder betrogen hatte, gaben mir den Rest.

Das alles passierte mir mit 16 Jahren.

Als ich die Beziehung nach 3 Jahren beendete, gab meine Mutter mir immer wieder die Schuld am Scheitern der Partnerschaft. Sie wusste von meiner Borderline-Erkrankung und glaubte tief und fest, dass ich es aufgrund dessen „verbockte“. Als ich ihr eines Tages voller Wut und mit Tränen in den Augen erklärte, was er mir jahrelang antat, reagierte sie mit „Ich bin deine Mutter, ich will sowas nicht hören.“ Sie empfand es als unangenehm und unpassend, dass ich ihr als Tochter von meinem sexuellen Missbrauch erzählte.

Meine Schwester reagierte mit Lachen, aus Nervosität oder aus Schock, ich weiß es nicht genau. Sie sprach mich nie wieder auf das Thema an. Meinem Vater erzählte ich nie etwas.

Auch nachdem meine Mutter von den Vorfällen wusste, hörte ich sie immer mal wieder „Also mir hat er ja nichts getan und ich mochte ihn ja“ sagen, als Gespräche am Familientisch zu der gemeinsamen Zeit mit ihm führten.

Lediglich meine Freunde von damals, die ich erfreulicherweise auch Freunde von heute nennen darf, glaubten mir und fingen mich auf.

Das alles ist nun knapp 8 Jahre her und ich spreche selten darüber. Denken tu ich allerdings oft daran, besonders wenn ich in den Medien von sexuellem Missbrauch innerhalb von Beziehungen höre.

Ich habe mittlerweile keinerlei Kontakt mehr zu meinem Exfreund. Ich weiß nichts mehr über ihn und sein Leben. Ich weiß nicht, wie er seine neuen Beziehungen führt und wie er sich Partnerinnen gegenüber verhält. Ich hoffe lediglich, dass er sich geändert und gelernt hat.

Angeklagt habe ich ihn nie, da wir ja „in einer Beziehung waren“. Darüber hinaus hatte ich Sorge, dass mir wegen meiner psychischen Probleme und Stimmungsschwankungen damals, ohnehin nicht geglaubt wird. Oder dass meine Anklage als Racheakt gesehen wird, um ihn für sein Fremdgehen innerhalb der Beziehung zu bestrafen. Ich hielt lieber den Mund. Ich wollte die Geschehnisse abhaken und aus meinem Gedächtnis löschen, doch leider habe ich das nie wirklich geschafft.

Ich weiß heute mehr über mich selbst, meine Psyche und was sexuelle Gewalt mit Menschen anstellen kann. Denn sexuelle Übergriffe sind nichts, das man einfach so wegsteckt. Sexuelle Gewalt kann massive Auswirkungen auf Betroffene haben.

Es kommt bei Opfern zu einer enormen Verletzung ihrer Persönlichkeit und ihrer körperlichen Unversehrtheit. Ihr wird der Wille einer anderen Person mit Gewalt aufgezwungen – und dies in dem sehr sensiblen Bereich ihrer sexuellen Selbstbestimmung. Personen erleben in dieser Situation einen völligen Kontrollverlust über ihren Körper und ihren Willen. Sie fühlen sich ohnmächtig, hilflos. Sie empfinden Ekel und haben unheimliche Angst. Besonders wenn der Täter bekannt oder gut vertraut ist, bedeutet dies einen unfassbaren Vertrauensmissbrauch.

Mit 23 Jahren, frage ich mich nun, warum ich das alles mit mir geschehen ließ. Doch in Situationen sexuellen Missbrauchs, gibt es kein „richtiges“ oder „typisches“ Verhalten, sondern nur intuitive Reaktionen, die nur zum Ziel haben, bedrohliche Situationen zu überleben. Manche Frauen sind starr vor Angst und lassen die Vergewaltigung scheinbar teilnahmslos über sich ergehen. Andere wehren sich körperlich oder verbal. Wieder Andere verhalten sich scheinbar entgegenkommend, um so die Gefahr für ihr Leben zu verringern. Jede Verhaltensweise eines Opfers stellt einen Schutzmechanismus dar, um das eigenen Überleben zu sichern.

Ihr Selbstwertgefühl, ihre Würde, ihre Sexualität und die eigene Körperwahrnehmung können für lange Zeit gestört sein. Viele Betroffene reagieren mit Scham und Ekel vor sich selbst oder quälen sich mit Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen. Viele Gewaltopfer sind über ihre eigenen Reaktionen während der Tat zutiefst irritiert.

Denn ebenso gibt es kein typisches Opferverhalten nach einer Vergewaltigung. Manche Menschen sind völlig verzweifelt und aufgelöst, andere wirken ruhig und gefasst oder aggressiv. Einige Personen brechen zusammen, andere erscheinen überkontrolliert und manche sind nicht in der Lage das Geschehene überhaupt in Worte zu fassen. Auch nachdem viel Zeit vergangen ist.

Die wenigsten Personen reden über die Vergewaltigung. Scham und Angst – gerade auch vor Schuldzuweisungen – hindern sie daran, sich nahe stehenden oder fremden Personen anzuvertrauen oder unmittelbar nach der Tat eine Anzeige zu erstatten. Das Verhalten einer Person nach sexueller Gewalt lässt absolut keine Rückschlüsse auf ihre Glaubwürdigkeit zu.

Die Sorge vor Falschbeschuldigungen ist irrational. Solche Fälle sind so selten, dass sie es nicht rechtfertigen, dass beinahe jede Frau oder weiblich gelesene Person, die mit dem Vorwurf der Vergewaltigung an die Öffentlichkeit geht, mit ihnen konfrontiert wird. Und doch passiert es. Doch wird vielen Frauen einfach nicht geglaubt. Besonders wenn der mutmaßliche Täter in der Öffentlichkeit steht oder eine Machtposition inne hat.

Doch wieso eigentlich?

Unsere Gesellschaft ist eine Tätergesellschaft. Und solange wir innerhalb von patriarchalischen Strukturen leben, wird sie das auch bleiben.

Im Patriarchat formen diejenigen Personen, die sich in der Machtposition befinden, die Wahrheit. Sie entscheiden, wem geglaubt wird und wem nicht.

Das Patriarchat unterdrückt ALLE Opfer sexueller Gewalt, egal welchen Geschlechts. Es spricht sowohl männlich gelesenen als auch weiblich gelesenen Personen ihre Erfahrungen ab.

Eine Frau, die Opfer sexueller Gewalt wird, ist eine ‚durchgeknallte Lügnerin‘, die einem Mann die Karriere oder das Leben zerstören will. Ein Mann, der Opfer sexueller Gewalt wird, ist eine ’schwule Pussy‘ im Falle eines männlichen Täters oder ’schwul, wenn es ihm nicht gefallen hat‘, denn ‚wie kann ein Mann vergewaltigt werden, Männer lieben Sex?‘ im Falle einer Täterin. Diese Narrativen verfälschen und verformen die Wahrheit und machen es Opfern teilweise unmöglich, etwas zu sagen.

In unserer Gesellschaft gilt: Täter schützen Täter. Und potentielle Täter schützen Täter. Und Personen, die sich unsicher sind, ob sie sich in sexuellen Beziehungen korrekt verhalten, schützen Täter.

Denn es ist sehr bequem, sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung als eine Lüge darzustellen, wenn es einem ermöglicht, sich nicht damit auseinanderzusetzen, ob man selbst stets den Konsens innerhalb von sexuellen Beziehungen gewahrt hat. Es ist nun einmal einfacher, die Augen und Ohren zu schließen, als sich mit schwierigen Themen auseinanderzusetzen.

Aber damit reicht es jetzt. Es ist an der Zeit, dass die Gesellschaft zum Thema ’sexuellen Missbrauch‘ lauter wird. So laut, dass es nicht mehr möglich ist, die Rufe der Opfer nicht zu hören, zu ignorieren oder klein zureden. Vor allem weiblich gelesene Personen und Frauen, und damit Personen, die in der Gesellschaft überwiegend bereits sexuellen Missbrauch erlebt haben oder mit erhöhter Wahrscheinlichkeit in ihrem Leben sexuelle Gewalt erleben werden, müssen sich miteinander solidarisieren. Wir MÜSSEN einander glauben, wir müssen füreinander da sein, wir müssen zusammenhalten.

Auch in Deutschland müssen Personen, die im öffentlichen Leben stehen, zur Rechenschaft gezogen werden, wie durch die #MeToo-Bewegung in den USA, sobald Vorwürfe bezüglich sexueller Gewalt und Missbrauchs gegen sie im Raum stehen und immer lauter werden. Ansonsten wird sich nie etwas ändern.

Wir müssen uns gemeinsam aus dieser Misere rauskämpfen, aus diesem Sumpf der ungerechten Machtverteilung, in welcher besonders heterosexuelle, reiche weiße Männer, immer noch die Oberhand haben und die Realität und Wahrheit formen können, so dass sie ihnen selbst hilft.

Gesellschaftlich und moralisch gesehen, MUSS dem Opfer geglaubt werden, bis das Gegenteil bewiesen wird.

Ich, der Dämon – Über die Dämonisierung und Stigmatisierung von Borderline-Patient:innen

2 Prozent der Weltbevölkerung erfüllen die diagnostischen Kriterien einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. 2 Prozent der Weltbevölkerung werden aufgrund ihrer Symptome dämonisiert.

Stigma: Unter einem Stigma wird ein negativ bewertetes Attribut verstanden, durch welches der Träger von normativen Erwartungen abweicht und welches ihn in den Augen anderer derartig diskreditiert, dass er seinen Anspruch auf gesellschaftliche Gleichberechtigung verliert.

Ich habe Borderline. Ich bin manipulativ, böse und gefährlich. Ich behandle Menschen wie Spielzeuge und sobald sie mich langweilen, lasse ich sie fallen. Genau darum hält es niemand lange mit mir aus. Wie denn auch? Ich bin ein schlechter und aggressiver Mensch. Jobs, Hobbies und Beziehungen wechsle ich wie Unterwäsche, denn ich verliere an allem schnell das Interesse und bin schlichtweg unzuverlässig und egoistisch. Ich mache mir die Welt wie sie mir gefällt und alle anderen sollen gefälligst nach meiner Pfeife tanzen, sonst bekommen sie meine Launenhaftigkeit zu spüren. Jeder der mir zu nahe kommt, wird bereuen meine Bekanntschaft gemacht zu haben.

Und all das lässt sich leider nicht ändern. Ich wurde böse geboren und bin untherapierbar. Die beste Lösung für alle Beteiligten ist es, mir fern zu bleiben.

Naja, so oder so ähnlich, sehen mich viele Menschen, denen ich sage, dass ich an Borderline leide.

In Wahrheit bin ich seit über 6 Jahren in einer fürsorglichen und gesunden Beziehung mit einem Mann, der mir immer wieder sagt, es wäre unmöglich mich nicht zu lieben. Ich habe einige gute Freunde, viele davon schon seit mehreren Jahren, die hinter mir stehen und mir gerne ihre Hilfe anbieten, wenn ich sie brauche. Seit 5 Jahren studiere ich mit Eifer und Freude Psychologie und gehe seit genau so vielen Jahren einem Nebenjob nach, der mir unheimlich Spaß macht. Ich habe eine erfolgreiche Therapie hinter mir, die mir geholfen hat, meine Symptomatik einzudämmen, Stimmungsschwankungen in den Griff zu bekommen und Beziehungen aufrechtzuerhalten. Ich bin ein stinknormaler Mensch, der weiterhin jeden Tag an sich selbst und seiner psychischen Störung arbeitet.

Doch diese Störung wird stark stigmatisiert.

Die emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (BPS) ist durch eine Instabilität von Emotionen, Stimmungen, der Identität und zwischenmenschlichen Beziehungen gekennzeichnet.

Früher existierten für mich nur Extreme, alles war schwarz oder weiß, großartig oder desaströs. Mein Leben war eine einzige endlose Achterbahnfahrt. Ich saß angeschnallt da, fuhr auf und ab und auf und ab und konnte nichts dagegen tun. Ich konnte die Fahrt nicht steuern. Ich war in der Lage innerhalb einer Stunde das komplette Emotionsspektrum zu durchleben. Oftmals waren es Wut und Aggression, die überwogen.

Ich fühlte mich oft dazu gezwungen mich meinen immensen Gefühls- und Stimmungsschwankungen hinzugeben und litt aufgrund dessen unter heftigen Anspannungszuständen, die für mich oft extrem qualvoll und kaum auszuhalten waren. Sie verleiteten mich dazu Dinge zu tun, die meinem Körper, meinen Beziehungen und meinem Lebensweg schadeten, um die innere Spannung abzubauen.

In Zeiten hoher Symptomatik machte ich deshalb ständig Erfahrungen mit irrationalen Wutausbrüchen und paranoiden Wahnvorstellungen, unter denen besonders Lebenspartner und Freund:innen stark litten.

In diesen zwischenmenschlichen Beziehungen beherrschten die absolute Panik vor dem Verlassenwerden (mit Selbstmorddrohung bei Verlustängsten) und widersprüchlich dazu, die große Angst vor emotionaler Nähe mein Handeln. Im Umgang mit anderen Personen war und bin ich oft sehr unsicher. Es fällt mir nicht leicht einzuschätzen, wie ich auf andere Menschen und meine Umgebung wirke. Ob ich etwas Richtiges oder Falsches sage und vielleicht sogar jemanden verletze, merke ich kaum.

Diese ganzen Symptome und Verhaltensweisen sind typisch für Personen mit Borderline. Doch BPS ist, wie bereits erwähnt, ebenfalls durch etwas anderes besonders gekennzeichnet: Stigmatisierung, die sich fast nach Dämonisierung anfühlt.

In vielen Fällen können Freunde und Familie nicht einschätzen, was die Erkrankung für die Betroffenen wirklich bedeutet. Sie leiden unter dem schwierigen und chaotischen Verhalten der Borderliner:innen, fühlen sich durch ihre ungerechtfertigten Hasstiraden und Wutanfälle verletzt, können dem Hin und Her ihrer Gefühle nicht folgen und werden abwechselnd geliebt und abgelehnt. Die fortwährenden „Dramen“ und das selbstzerstörerische Verhalten sind für das Umfeld so unverständlich, dass die Erkrankten mit dem Stigma „Vorsicht: gefährlich!“ versehen werden. Die innere Wirklichkeit der Betroffenen wird nicht gesehen, die spürbaren Konsequenzen ihrer internen Zerrissenheit werden umso mehr wahrgenommen. Die Gründe für toxische Verhaltensweisen können nicht ausgemacht werden und werden deshalb der Persönlichkeit und dem Menschen an sich, und nicht der dahinterliegenden neurologischen/psychischen Störung zugeschrieben.

Obwohl Mental Health Unterstützer:innen aktiv gegen die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen kämpfen, bleibt die Borderline-Persönlichkeitsstörung eine missverstandene, oft falsch diagnostizierte und vorurteilbehaftete Störung.

Selbst mein Psychiater riet mir damals bei der Suche nach einer neuen Therapiestelle, nachdem ich zu alt für die Jugendlichenpsychotherapie wurde, am Telefon erstmal nicht zu erwähnen, dass ich Borderline habe. Ich würde es sonst schwer haben überhaupt ein Erstgespräch zu bekommen.

Denn bei vielen niedergelassenen Psychotherapeut:innen gelten Borderliner:innen als schwierig. Oft schlagen ihnen daher nicht nur von ihrer Familie oder ihren Freunden heftige negative Reaktionen entgegen, sondern sie müssen auch bei der Suche nach Therapeut:innen viele Absagen einstecken. Mit dieser Ablehnung umzugehen, ist alles andere als einfach. Einige Psychotherapeut:innen reagieren bereits auf den Anruf von Borderliner:innen mit einer unmissverständlichen Absage, andere verpassen ihnen Label wie „untherapierbar“ und „unsympathisch“.

Ich selbst machte mir vorrangig in meinem Praktikum an einer psychosomatischen Klinik ein Bild von der starken Stigmatisierung der Borderliner:innen im medizinischen Bereich. Im Pausenraum wurde regelmäßig abfällig über eben diese Patient:innen gesprochen. Anstatt den betroffenen Person helfen zu wollen, wurden oftmals Pläne geschmiedet, um Borderline:Patientinnen auf andere Abteilungen „abzuschieben“. Ich selbst traute mich nie etwas zu sagen, ich senkte stets meinen Kopf und betete, dass die Pause bald vorbei ging. Die Diskriminierung, die dort stattfand, richtete sich nie gegen mich, da meine Kolleg:innen nichts von meiner Störung wussten, doch sie tat trotzdem weh.

In Notaufnahmen und Arztpraxen erlebte ich jedoch Diskriminierung, die sich sehr wohl gegen mich richtete. Es gab eine Hausärztin, die mir riet meine Narben übertätowieren zu lassen, da sie ja ganz schrecklich aussehen würden. Und bei der Plasmaspende fragte die Ärztin, die untersuchte ob ich Plasma spenden dürfe, ob ich denn eine Gefahr für die anderen Spender:innen darstellen würde.

Als ich wegen einer Verletzung in die Notaufnahme musste, blickte man mir kaum in die Augen und sprach über meinen Kopf hinweg. Eine Schwester kam zu mir und fragte kalt „Borderlinerin?“ und griff bevor ich antworten konnte nach meinem Armen, schaute auf meine Narben, ließ meine Arme fallen und drehte sich ohne ein weiteres Wort von mir weg.

Man gab mir das Gefühl, den Notärzt:innen durch meine Selbstverletzung ihre Zeit zu stehlen. Ich fühlte mich wie eine Belastung, wie eine Patientin, die man einfach abarbeitet und so schnell es geht wieder wegschickt. Also ging ich danach mit SVV-Verletzungen nie wieder in die Notaufnahme.

Auch Studienergebnisse zu dem Thema bestätigen die starke Stigmatisierung, die ich selbst oft wahrnehmen musste, und verweisen vor allem auf die Rolle sichtbarer Krankheitsanzeichen auf das Risiko, stigmatisierenden Umweltreaktionen ausgesetzt zu sein. Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung scheinen leider zu den «Diskreditierten» zu gehören, denen wichtige Coping-Strategien wie Geheimhaltung oder selektive Vermeidung nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Betroffene können durch ihre Impulsivität und durch die fehlende Kontrolle ihrer Emotionen nicht verstecken wer sie sind. Sie können ihre Störung nicht verheimlichen und Vorurteilen somit nicht ausweichen.

Werden besonders Patient:innen mit einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ durch das psychiatrische Pflegepersonal stigmatisiert? (Breneise et al.)

Im Jahr 2020 führten Breneise et al. eine Studie durch, in welcher die Einstellungen des psychiatrischen Pfegepersonals zu Patient:innen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) (im Vergleich zu Patient:innen mit Depression) untersucht wurden. Pflegekräfte wurden angewiesen ihre persönlichen Einstellungen, ihr Gefühl von Distanz sowie ihre Emotionen zu Borderline-Patient:innen (oder depressive Patient:innen) anzugeben. Die Ergebnisse dieser Studie legten dar, dass Patient:innen mit BPS im Vergleich zu depressiven Patienten stärker abgewertet und negativer beurteilt werden.

Strategien zur Stigmabewältigung von Menschen mit Schizophrenie und Borderline-Persönlichkeitsstörung (Schulze et al., 2010)

Eine weitere Studie verglich die Eigenberichte über Stigmatisierung von Menschen mit Borderline und Menschen mit Schizophrenie. Durch diese Untersuchung wurde deutlich, dass Borderline-Patient:innen sich häufiger (67 %) mit Stigma konfrontiert sehen als schizophren erkrankte Menschen (54 %). Die Patient:innen mit Borderline berichteten, dass sie Stigmatisierung häufig im Zusammenhang mit sichtbaren Zeichen ihrer Erkrankungen (z.B Narben) erlebten und stark darunter litten nur über ihre Krankheit definiert zu werden. Die beiden Patientengruppen mit Schizophrenie und Borderline gaben außerdem an, dass versucht wird, mithilfe von Geheimhaltung und selektiver Vermeidung Stigmatisierungen zu umgehen.

Schlechte und diskriminierende Erfahrungen mit psychologischem Fachpersonal zu machen, ist für Borderliner:innen extrem problematisch, da Betroffene meiner Auffassung nach, unbedingt therapeutische und gegebenenfalls medikamentöse Hilfe brauchen, um ihre Gedanken und Konzepte zu sortieren und eine feste Identität aufzubauen.

Wir kämpfen rund um die Uhr mit der Konstruktion einer stabilen Persönlichkeit, die uns die Impulsivität und Emotionalität der Störung immer wieder einreißt. Wir wissen nicht wer oder wie wir wirklich sind, ändern unser Verhalten und Denkweise täglich und verlieren uns im eigenen Gefühlschaos.

Wie viele andere Borderliner:innen, leide auch ich dadurch stets an einem geringem Selbstwertgefühl. Das Selbstbild bröckelt und der Wechsel zwischen Selbstliebe und Selbsthass erfolgt spontan.

Hört man im Alltag nun Dinge wie „Mit Borderliner:innen möchte ich nichts mehr zu tun haben.“ oder „Ich war mal mit einer Borderlinerin zusammen, die hat mich kaputt gemacht. Nie wieder.“ oder „Mit euch kann man einfach nicht klarkommen.“ hilft es nicht wirklich beim Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls. Im Gegenteil, man fängt an zu denken „Vielleicht bin ich wirklich zerstörerisch, böse und nicht liebenswert.“

Meine Therapeutin half mir das Chaos in meinem Kopf zu ordnen, die fiesen Vorurteile über meine Krankheit auszublenden und toxische Verhaltensweisen sowie Gedanken mit gesunden Alternativen auszutauschen. Sie wusste wie sie mit mir umzugehen hat und das war nicht selbstverständlich.

Psychiatrische und psychologische Fachkräfte, die sich dafür entscheiden Menschen mit BPS zu behandeln, tun es nämlich oft ohne auf Borderline spezialisierte Ausbildung, welches Sitzungen meist frustrierend und ergebnislos für alle Beteiligten macht. Patient:innen fühlen sich dadurch oft missverstanden und verurteilt, während Therapeut:innen sich ohnmächtig fühlen und ratlos zurückgelassen werden.

BPS-Patient:innen werden dadurch schnell als ‚hoffnungsloser Fall‘ gelabelt und von Therapeut:innen fallen gelassen. Gerade wenn das passiert, können Symptome der Borderline-Persönlichkeitsstörung, wegen der sich Betroffene überhaupt erst Hilfe gesucht haben, intensiviert werden. Denn wenn Menschen, die extrem unter Verlustängsten leiden, von einer Person fallen gelassen werden, die eigentlich da sein sollte, um ihnen zu helfen, kann es dazu führen, dass diese Menschen noch stärker in die BPS-Symptomatik fallen als vor der Therapie.

Nun habe ich meine Störung mittlerweile sehr gut im Griff. Ich kann sie geheim halten und verstecken, um weniger stigmatisiert zu werden.

Viele meiner Symptome habe ich in den letzten Jahren deutlich abschwächen oder sogar ganz ablegen können.

Doch versteht mich bitte nicht falsch: Auch wenn ich das alles nicht geschafft hätte und immer noch in Zeiten höchster Symptomatik leben würde, wäre ich nach wie vor ein Mensch mit Gefühlen, der Respekt, Liebe und Hilfe verdient hat, wie jeder andere Mensch auch.

Ich bin an einem stabilen Punkt in meinem Leben und genau deshalb, entscheide ich mich dafür, mein Borderline nicht geheim zu halten. Ich möchte öffentlich darüber sprechen und der massiven Stigmatisierung meiner Erkrankung mittels Aufklärung den Kampf ansagen.

Es ist äußerst einfach eine psychische Störung zu dämonisieren und zu entmenschlichen um Mitleid und Empathie für Patient:innen dadurch entbehrlich zu machen. Für unsere Mitmenschen ist es einfach uns zu verlassen oder sich erst gar nicht mit uns einzulassen, wenn man weiß, dass wir ohnehin ‚böse‘ sind und es vielleicht sogar verdienen.

Es ist einfach, uns als ‚manipulativ‘ anzusehen, wenn man die krasse Angst vor dem Alleinsein dahinter nicht sehen kann. Es ist einfach, uns als ‚aggressiv‘ anzusehen, wenn ihr nicht erkennen könnt, dass wir unseren Emotionen hilflos ausgesetzt sind. Und es ist einfach, uns als ‚böse‘ darzustellen, wenn ihr nicht sehen könnt, dass wir lediglich dem Impuls folgen, andere zu verletzen, bevor wir selbst verletzt werden.

Wir führen einen Krieg gegen unseren eigenen Kopf. Leider oft mit Kollateralschaden. Hätten wir selbst die Möglichkeit vor uns wegzulaufen, würden wir es vielleicht sogar genauso tun.

Denn eins könnt ihr uns glauben, wir wären gerne die Dämonen für die man uns hält. Wir wären gerne einfach nur böse, manipulativ, egoistisch und unfähig Gefühle zu empfinden, denn das wäre so viel einfacher für uns. Es würde uns so viel Leid abnehmen.

Doch die Wahrheit ist, wir sind Menschen. Menschen, die lieben und vermissen und fühlen. Oftmals sogar stärker als viele andere Personen. Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Menschen, beeinträchtigt in ihren Beziehungen, ihrem Denken und ihrem Handeln. Aber ansonsten, einfach nur Menschen. Und genau so wollen wir auch behandelt werden.

Semikolon – Eine kleine Geschichte über Suizid

Das Semikolon steht in der Grammatik für eine Fortsetzung. Als Autor:in hat man an diesem Punkt die Möglichkeit den Satz zu beenden, entscheidet sich allerdings dafür es nicht zu tun.

!Triggerwarnung Suizid/Selbstmordgedanken!

Verfolgt man mich eine Weile, ist es schnell kein Geheimnis mehr, dass ich unter psychischen Problemen und Depressionen leide, die immer wieder, besonders in der dunklen Jahreszeit, ihren Weg zurück zu mir finden. Und natürlich höre ich von Zeit zu Zeit ein kleines und leises „Ich möchte nicht mehr“ aus meinem Mund kommen. Doch ich behaupte, dass jeder einzelne Mensch, egal ob depressiv oder nicht, in Zeiten der Verzweiflung, schon einmal, wahrscheinlich ganz heimlich und vielleicht auch nur für eine klitzekleine Millisekunde auf den Gedanken kam, sich das Leben zu nehmen. Und die allermeisten verwerfen diesen Gedanken sofort wieder und lassen ihn niemals auch nur an die Grenze einer potentiellen Verwirklichung kratzen. Und das ist selbstverständlich gut so.

Nun ist Selbstmord oder Suizid, ein verdammt sensibles und heikles und schwieriges Thema. Man spricht nicht darüber. Man will nichts darüber hören. Es ist gegen unsere Natur, gegen unsere Urinstinkte. Wir sind normalerweise darauf ausgerichtet, alles dafür zu tun, am Leben zu bleiben. Sprechen Menschen darüber, ihr Leben zu beenden, stellen sich uns die Nackenhaare auf. In Zeitungen und Medien werden Selbstmorde, im Kontrast zu Vergewaltigungen, Mordfällen und Totschlägen, nicht aufgeführt. Bei der Deutschen Bahn heißt der Schienensuizid „Unfall mit Personenschaden“. In manchen Religionen gilt Suizid sogar als Sünde. Wie kann man es wagen, das einzigartige Geschenk Gottes, das Leben als Teil seiner Schöpfung, zu verschmähen? Auch für viele Ungläubige gilt die Selbsttötung als ‚Easy Way Out‘ und Menschen, die Suizid begehen als ‚Feiglinge‘ oder gar ‚Egoisten‘.

Suizid wird totgeschwiegen, tabuisiert und geächtet.

Und dann passiert es. Ein Mensch begeht Selbstmord. Trotz all dem. Und dann kommt die altbekannte, obligatorische Frage: „Warum hat er/sie denn nichts gesagt?

In meiner frühen Jugend, als meine psychische Verfassung äußerst labil war, schaute ich gerne um meine Stimmung aufzubessern und mich auf andere Gedanken zu bringen, die amerikanische Late Late Show mit dem Schotten Craig Ferguson als Host. Dieser Mann brachte mich zu dieser Zeit wie kein anderer Mensch zum Lachen und machte, dass es mir für eine kurze Weile wieder gut ging.

In einer dieser Sendungen sprach Craig Ferguson im Eröffnungsmonolog (hier zum Video) über ein Thema, über das ich selten jemanden so humorvoll und offen habe sprechen gehört – Selbstmord.

Es gab eine Zeit, in der Ferguson stark unter Alkohol- und Drogensucht sowie Depressionen mit suizidalen Gedanken litt. An einem Weihnachtsmorgen in dieser Zeit, fasste er den endgültigen Entschluss sein Leben zu beenden und sich von einer Brücke zu stürzen, einfach nur „um es allen zu zeigen“ ohne so wirklich zu wissen, wer „alle“ sein sollten. Er ging entschlossen die Treppe, aus seinem gemieteten Raum über einem ranzigen Pub in London, hinunter und wollte sich gerade auf den Weg zur Towerbridge machen, als Barkeeper Tommy ihn auf ein Glas Sherry einlud. Ferguson mochte die Idee von einem ‚letzten‘ Glas Sherry und vergaß nach eben diesem und weiteren Gläsern Sherry, dass er sich an dem Tag eigentlich vorgenommen hatte sein Leben zu beenden. Obwohl die Zeit danach weiterhin hart blieb und er noch eine ganze Weile nicht schaffte trocken zu werden, blieb er auf ewig dankbar für dieses eine Glas Sherry, das ihm das Leben rettete.

Es gibt allerdings Menschen, die keinen Barkeeper Tommy haben und so geschah in diesem Jahr in unserer Familie etwas, auf das niemand vorbereitet war. Ein enges Familienmitglied beging Suizid. Und der Einschlag, den diese Person hinterlassen hat, war enorm.

Hinterlassen wurde eine große Familie, verwirrt, verletzt, wütend, erschüttert und am Boden zerstört. Man fing an einzelne Situationen zu rekapitulieren, sich Vorwürfe zu machen und sich die Frage nach dem ‚Warum?‘ zu stellen. Das Leben dieser Familie wurde von einer Sekunde auf die andere für immer verändert.

Und eins sei euch gesagt: Die Wohnungstür aufzumachen und zwei Polizist:innen mit betrübten Gesichtern und Seelsorger im Gepäck auf der Willkommensmatte stehen zu sehen, ist eins der schlimmsten Gefühle überhaupt.

Doch Menschen, die ernsthaft über Selbstmord nachdenken, befinden sich nicht in der Lage diese Konsequenzen zu sehen. Sie sehen nicht, was für einen riesen Krater sie in der Welt hinterlassen. Sie glauben mit vollkommener Überzeugung, dass sie an einem Punkt in ihrem Leben angekommen sind, an dem nichts wieder besser werden kann und an dem sie niemand vermissen würde, wenn sie sich entscheiden würden zu gehen. Sie glauben zu wissen, dass die Welt ohne sie eine Bessere wäre. Und das ist falsch. Es ist einfach nicht wahr. Nie.

Das Leben kann immer wieder besser werden. Und besonders, wenn man das Gefühl hat, am absoluten Tiefpunkt angekommen zu sein.

Nun kommen wir wieder auf das Semikolon vom Anfang zurück, da sich Einige bestimmt fragen, was das überhaupt sollte. Ich habe die Bedeutung des Semikolons sehr ins Herz geschlossen.

Denn jeder Einzelne von uns, hat zu jeder Zeit, die Möglichkeit sein Leben zu beenden und aus dieser Welt zu treten. Das ist Fakt. Es ist so wirklich das Einzige, das wir in unserem Leben wahrhaftig kontrollieren können. Und genau dieses Wissen, gibt mir die Kraft doch immer wieder weiter zu machen. Wenn das Leben wirklich schlecht zu dir ist und du glaubst, dass Selbstmord die einzig verbleibende Lösung ist, kannst du trotzdem immer noch bis morgen warten, denn die Möglichkeit zu gehen, läuft nicht weg. Du kannst jederzeit den Notausgang nehmen, doch was wäre, wenn morgen wieder alles ganz anders aussieht? Und dann wartest du auf morgen und wenn es nicht gut ist, wartest du wieder auf morgen und wieder auf morgen. Warum denn auch nicht? Morgen kannst du es ja auch immer noch tun. Und irgendwann kommt ein Morgen, und ich verspreche es dir, an dem du vergisst, dass dieser ‚Notausgang‘ existiert.

Ihr könnt es so sehen: Mit dem grünen Licht des Notausgangsschild im Rücken, bekommt man den Mut, doch immer wieder ein Stück weiter den Gang des Lebens entlangzugehen.

Doch warum schreibe ich diesen Beitrag und teile meine Erlebnisse und Gedanken mit euch?

Es ist nun Ende November und die Weihnachtszeit, welche für Liebe und Zusammenhalt steht, kann dazu führen, dass Menschen mit Depressionen sich noch einsamer fühlen als sonst. Es ist eine Risikozeit für Selbstmordgedanken. Und diese Weihnachtszeit ist eine Besondere, denn in diesem Jahr wird sie mit Kontaktbeschränkungen gepaart.

Deshalb bitte ich euch, gerade jetzt: Seid nett, seid wachsam, sprecht und hört zu und habt keine Angst euch oder anderen Hilfe zu suchen. Passt auf euch selbst und auf andere auf. Und hört endlich auf dieses unheimlich tödliche Thema, totzuschweigen.

Spielst du selbst oder eine dir nahestehende Person mit dem Gedanken dir das Leben zu nehmen? Dann melde dich bitte unter dieser kostenlosen Nummer bei der Telefonseelsorge oder online auf ihrer Website. Nach einer ersten Krisenintervention erfolgt auf Wunsch eine qualifizierte Weitervermittlung zu geeigneten Beratungsstellen:

0800 1110111 www.telefonseelsorge.de

Disempowering Men – Lasst die Männerjagd beginnen.

-Nicht. Denn der moderne Feminismus soll kein männerhassender Kampf auf dem Weg zur Herrschaft des Matriarchats werden. Er hat schlichtweg Besseres zu tun.

Der Ruf des Feminismus scheint heutzutage kaum noch zu retten zu sein. Feministinnen gelten als frigide und neurotische Trockenpflaumen, die anfangen wütend rumzuschreien, wenn ein Mann ihnen nett die Tür aufhalten oder ein Kompliment machen will, denn Männer stehen bei uns grundsätzlich unter Generalverdacht. Wir brüllen laut ‚Vergewaltigung!‘ wenn sich uns ein Mann auf einen Meter nähert, natürlich nur wenn wir Glück haben, dass sich uns ein Mann auf einen Meter nähert, denn wer will uns schon ficken? Wir verstoßen glückliche Hausfrauen und Mütter, denn wissen die nicht, dass man als Frau heutzutage Karriere machen soll? Und außerdem sind wir alle Lesben und wenn nicht, tun wir so als wären wir’s, denn Männer sind das ‚Böse‘.

Diese Vorurteile über Feministinnen und den Antifeminismus an sich, gibt es allerdings bereits genau so lang wie den Feminismus selbst. Das ist nicht neu. Denn je schlechter der Ruf des Feminismus, desto besser ist es für Personen, die sich in der patriarchalischen Welt wohlfühlen und von ihr profitieren.

Doch entgegen der Erwartung vieler Antifeminist:innen möchten wir nicht, dass Männer Frauen nicht mehr die Türen aufhalten, sondern dass man jeder Person die Tür aufhält und nicht nur einer attraktiven Frau, um ihr im Anschluss auf den Arsch zu starren.

Wir möchten ebenfalls nicht, dass Frauen nicht mehr zuhause bleiben, um sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern. Wir möchten, dass sich die Frau frei dafür oder eben dagegen entscheidet und beides frei von Vorurteilen und Verurteilung bleibt.

Und zuallerletzt: Wir lieben Männer, wir wollen sie bloß nicht brauchen müssen.

Dieser Beitrag soll keinen weiteren Keil zwischen die Geschlechter treiben. Er soll erklären was es mit dem modernen Feminismus wirklich auf sich hat. Und dafür gibt es zu Anfang die wirklich sehr schöne und auf den Punkt bringende Wikipedia-Definition der Bewegung. (ja, ich weiß):

Feminismus (über französisch féminism abgeleitet von lateinisch femina ‚Frau‘ und -ismus) ist ein Oberbegriff für gesellschaftliche, politische und akademische Strömungen und soziale Bewegungen, die, basierend auf kritischen Analysen von Geschlechterordnungen, aller Menschen jeglichen Geschlechts sowie gegen Sexismus eintreten und diese Ziele durch entsprechende Maßnahmen umzusetzen versuchen.

Aber warum heißt es Feminismus und nicht Equalismus oder Neuterismus, wenn es lediglich um Gleichstellung geht?:

Die Bewegung heißt Feminismus, da sie Gleichberechtigung und Akzeptanz ausgehend von den Bedürfnissen der benachteiligten Gruppe, der Frauen und weiblich gelesenen Personen, fordert. In einer de facto patriarchalischen Kultur, müssen Frauen und weiblich gelesene Personen auf die gleiche gesellschaftliche Stufe geholt werden wie Männer. Klassische und stereotypische Rollenverteilungen sollen kritisiert werden, um eben auch Männern und männlich gelesenen Personen mehr Freiheiten zu bieten.

„Blödsinn, ihr seid doch alle Feminazis.“

Feminazi: Eine Person mit extremen, radikalen Sichtweisen und männerfeindlichen/männerhassenden Tendenzen, die sich Feminist:in nennt und glaubt ihren Aussagen dadurch Relevanz und Glaubwürdigkeit zu schenken, dem Ruf des Feminismus so jedoch erheblich schadet.

In absolut jeder Strömung und Bewegung gibt es extreme Gruppierungen, die den Sinn der eigentlichen Sache falsch verstehen (wollen). Personen verbreiten ihre radikalen Beliefs und sagen Dinge wie #menaretrash und nennen es Feminismus, um dadurch zu suggerieren, dass es okay ist. Es ist nicht okay. Und so sehr ich auch die Wut und Frustration mancher ‚Feminazis‘ verstehen kann, genau so sehr glaube ich, dass diese Wut in Energie umgewandelt und auf die richtige Sache gelenkt werden muss.

Aber Frauen in Deutschland haben doch keine ‚echten‘ Probleme mehr:

Am 19. Januar 1919 durften Frauen in Deutschland zum ersten Mal wählen und gewählt werden. Das Frauenwahlrecht, das für uns heute so selbstverständlich ist, musste sich gegen schweren Widerstand von Männern und Frauen durchsetzen. (Antifeminismus war also schon immer modern). Da Frauen eine geringere Intelligenz und durch den Besitz eines Uterus eine Bestimmung für das Kinderkriegen im privaten und häuslichen Raum zugeschrieben wurde, galten sie im politischen Bereich als deplatziert.

Der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ wurde allerdings erst am 23. Mai 1949 im Artikel 3, Abs. 2 unseres Grundgesetzes als Verfassungsgrundsatz aufgenommen. Dies galt jedoch lediglich als formale Gleichberechtigung, die noch lange nicht die Realität erreichte, da erst ab dem 1. Juli 1958 das Gleichberechtigungsgesetz galt. Ehemänner hatten jedoch weiterhin die Entscheidungsgewalt darüber, ob ihre Ehefrau berufstätig sein durfte, oder nicht. Erste Aufgabe einer Ehefrau blieb nun einmal die Haushaltsführung und Kindererziehung.

Bis zum Jahr 1959 galt der Stichentscheid des Ehemannes, der ihm erlaubte, Entscheidungen in allen Fragen des gemeinsamen Zusammenlebens zu treffen und erst ab den späten 60er Jahren führten Jugend- und Frauenbewegungen dazu, dass das frauenfeindliche Familienbild im Ehe- und Scheidungsrecht Geschichte waren. Zumindest auf dem Papier. Die Vergewaltigung in der Ehe wurde allerdings erst ab 1997 als eigenen Straftatbestand eingeführt.

Der Weg zur rechtlichen Gleichberechtigung von Männern und Frauen war in Deutschland dementsprechend ein langer und steiniger Weg. Und auch heute, im Jahr 2020, sind Frauen in der Gesellschaft strukturell nicht gleichberechtigt, auch wenn es auf dem Papier so scheinen mag. Laut dem WEF-Forscher Roberto Crotti, hinkt Deutschland vor allem in der Wirtschaft bei der Gleichberechtigung der Geschlechter im Vergleich zu anderen Ländern hinterher. Andere Länder besitzen einen höheren Anteil von Politikerinnen und Frauen in Führungspositionen und obwohl Frauen auf dem Arbeitsmarkt fast gleichberechtigt beteiligt sind, verdienen Männer nach wie vor deutlich besser. Vor allem in neuen und modernen Berufsbildern sind Frauen stark unterrepräsentiert.

Man muss auch im Jahr 2020 erkennen können, dass viele Sachverhalte nicht an individuellen Problemen liegen, sondern dass es nach wie vor strukturelle Nachteile gibt, die mit dem Geschlecht zusammenhängen. Zum Beispiel, dass vor allem alleinerziehende Mütter auf Wohnungssuche kaum eine Chance haben, oder dass bei Frauen im jungen Alter lieber zwei Mal überlegt wird, ob man sie einstellt ‚da sie ja bald Kinder bekommen könnten‘. Um Karriere machen zu können, müssen Mütter immer noch strukturelle Hürden überwinden (Stichpunkt: Angebote zur Kinderbetreuung) und mit gesellschaftlichen Normen klarkommen, die zum Beispiel die eigene Familie oder auch die Nachbarn stellen. Kinderlose Frauen, die Karriere machen, anstatt eine Familie zu gründen, gelten dann als ‚kalt‘ und ‚weniger weiblich‘. Sie würden irgendwann bereuen das große ‚Glück der Mutterschaft‘ abgelehnt zu haben.

Doch natürlich geht es Frauen und weiblich gelesenen Personen in Deutschland vergleichsweise zu anderen (nicht-westlichen) Ländern sehr gut. Und gerade dadurch, dass wir das Privileg besitzen, in Deutschland zu leben, einem Land, in welchem die Sicherheit und das Wohlbefinden von Frauen gefestigt sind, ist es uns möglich, uns mit der Selbstverwirklichung der Frau zu befassen. Der deutsche Weg der Gleichberechtigung der Geschlechter und der heutige Stand dessen, ist die Grundlage dafür, dass sich im modernen Feminismus mit neuen Aufgaben auseinandergesetzt werden kann. Feministische Ansprüche in Deutschland haben sich nun einmal weiterentwickelt und verändert. Heutzutage geht es um die gesellschaftliche Wahrnehmung von Frauen.

Frauen und weiblich gelesene Personen sollen sich freizügig anziehen und mit zahlreichen Sexualpartner:innen verkehren dürfen, ohne sexualisiert und geslutshamed zu werden. Sie sollen sich verhüllen dürfen, ohne als unterdrückt zu gelten. Sie sollen Karriere machen dürfen, ohne dadurch weniger weiblich zu wirken. Sie sollen Mutter werden dürfen, ohne als Gebärmaschine bezeichnet zu werden. Und sie sollen Karriere und Kinder verbinden dürfen, ohne als Rabenmutter dargestellt zu werden.

Frau soll einfach frei sein, in ihrer Selbstverwirklichung und den Entscheidungen, die sie trifft.

Doch in anderen Ländern, kann sich damit noch nicht befasst werden. Mädchen und Frauen sind weltweit strukturell in ihren Rechten, ihrer Sicherheit, ihrem Wohlbefinden und ihrem Zugang zur Bildung benachteiligt. Sie sind arm an Chancen und Macht. Sie werden häufiger Opfer sexualisierter Gewalt und sind öfter von extremer Armut betroffen. Die realen und aktuellen und ‚echten‘ weltweiten Probleme der Frau sind Genitalverstümmelung, sexualisierte Gewalt gegen Mädchen, Zwangsprostitution, Sextourismus und Frauenhandel.

Der Feminismus muss anerkennen, dass Solidarität und Unterstützung für Frauen in diesen Ländern notwendig ist. Frauen und weiblich gelesene Personen nicht-westlicher Länder, müssen in ihrem Kampf für die Geschlechtergerechtigkeit ermächtigt werden. Sie brauchen Hilfe, und damit meine ich auch Hilfe und keine ‚Rettung mit Missionierungscharakter‘, denn der Hauptgrund, warum diese Frauen Unterstützung benötigen, ist der, dass westliche Länder ihnen im Rahmen der Kolonialisierung ihre Ressourcen genommen haben, bevor sie sie selbst nutzen konnten.

Die Aufgaben des modernen Feminismus:

Genau so wie sich der Feminismus der modernen Zeit verändert und weiterentwickelt hat, verändert sich auch der Antifeminismus. Es gibt stets den alten ‚Die Welt soll genau so bleiben wie sie ist und das Patriarchat ist gut so‘ – Antifeminismus und eine neue, tückischere Form. Ein Antifeminismus, der sich selbst Feminismus nennt. Denn es gibt Personen, die Fahrlässigkeiten wie ein Sexkaufverbot oder ein Abtreibungsverbot veranlassen wollen, obwohl die weibliche Freiheit dadurch leidet, anstatt zu profitieren. Diese Verbote sind kein Feminismus, denn Feminismus ist der Gedanke, dass Frauen (und auch Männer) die komplette und uneingeschränkte Kontrolle über ihren eigenen Körper haben und alle Entscheidungen diesbezüglich selbst treffen können. Unser Körper ist unser Eigentum. Ein Sexkaufverbot, ein Abtreibungsverbot oder auch der Versuch Sexualpraktiken wie BDSM als frauenfeindlich darzustellen, suggerieren das exakte Gegenteil davon.

Die Aufgaben und Baustellen des heutigen Feminismus müssen sich von diesen frauenfeindlichen Einstellungen und definitiv vom feindlichen Männerbild lösen, da dieser irrsinnige Männerhass die Aufmerksamkeit auf die falsche Sache lenkt, anstatt auf wichtige Probleme unserer Zeit. Solidarität zwischen den Geschlechtern ist von Nöten. Es geht nicht um den alten Geschlechterkampf Mann gegen Frau. Es geht um den Kampf von Menschen gegen die Geschlechterungerechtigkeit.

Der moderne Feminismus schließt Frauen, weiblich gelesene Personen und Personen, die sich als Frau identifizieren, unbedingt mit ein, und zwar unabhängig der Hautfarbe, Religion und sexueller Orientierung. Er kämpft für die Freiheit und Selbstbestimmung aller Frauen, Männer und Menschen jedes Geschlechts. Er muss sich insbesondere auf die Benachteiligung und Diskriminierung von Women of Color, Sexworker:innen und trans Frauen konzentrieren.

Befasst werden muss sich, mit der sexuellen Diskriminierung von und Gewalt gegen Frauen jeglicher Hautfarbe und die totgeschwiegene sexuelle Gewalt gegen Männer und LGBTQ.

Der Feminismus darf kein ‚weißer‘ Feminismus sein und muss die Probleme von Women of Color gerade jetzt in den Vordergrund rücken, da diese Frauen zu gleichen Teilen unter Misogynie UND Rassismus leiden, und dadurch unter einer extremen Doppelbelastung stehen, die nicht mehr geduldet werden darf und priorisiert werden muss.

Last but definitely not least, muss sich mit der strukturellen Diskriminierung von trans Menschen auseinandergesetzt werden. Denn trans Frauen sind Frauen (FCK JKR).

Es muss sich mit dem Recht auf sexuelle, reproduktive und geschlechtliche Selbstbestimmung befasst werden, gesellschaftlich zementierte Rollenbilder aufgelöst und die ’sanfte‘ Gewalt zugewiesener Biografien und Lebensführung verhindert werden. Stereotype müssen erkannt, und Menschen aller Geschlechter, die darunter leiden, müssen davon befreit werden. Denn ein Mann, der lieber zuhause bleiben möchte, um sich um die Kinder zu kümmern und deshalb als ‚kein echter Mann‘ betitelt wird, leidet genauso darunter wie eine Frau, die neben der Kindererziehung Karriere machen will und dadurch zur ‚Rabenmutter‘ wird.

Das ist der Feminismus für den ich stehe und kämpfe.

Wem diese Forderungen immer noch zu radikal sind, dem ist nicht mehr zu helfen. Doch für alle anderen gilt: Feminism is for everyone.

Catcalling verbieten: „Man darf ja gar nichts mehr.“

Ich gehe fröhlich und ungezwungen mit meiner Freundin durch die Straßen Münchens. Die Sonne scheint und es ist warm, aber windig. Wir haben gute Laune und genießen die gemeinsame Zeit. Als der Wind mein lockeres Kleid hochweht, höre ich eine Gruppe an älteren Männern freudig klatschen und Laute der Begeisterung ausrufen. Let’s talk about it.

Catcalling. Verbale sexuelle Belästigung in der Öffentlichkeit, in der Regel in Form von sexuell aufgeladenen Kommentaren bezüglich des Körpers und des Aussehens der belästigten Person. Catcalling wird meistens von Männern, oft in Gruppen, ausgeführt und richtet sich größtenteils an Frauen und weiblich gelesene Personen.

,,Hey na, Schöne? Komm doch mal rüber quatschen.“

,,Ich gehe durch den Stadtpark zum Bahnhof. Auf einer Bank 3 ältere Männer, sichtlich angetrunken, rufen mir hinterher: ‚Was ist das denn für ’ne Fotze? Rost auf’m Dach heißt feuchter Keller‘.“

Auf Twitter habe ich, unabhängig des Geschlechts und der Sexualität, nach Erfahrungsberichten bezüglich Catcalling gefragt. Wie vermutet, gehen ein Großteil der Belästigungen von Männern aus und richten sich an weiblich gelesene Personen, sehr häufig auch an minderjährige Mädchen, die sich noch schlechter gegen Catcalling wehren können. De facto werden jedoch Personen jedes Geschlechts und jeder Sexualität von Catcalls belästigt.

,,Mir sind 3 Männer entgegen gekommen, die bereits von Weitem gegafft haben. Ich hab dann mein Handy rausgeholt und aus Nervosität drauf geschaut. Der Typ, der mir am nächsten war hat dann gebrüllt: ‚Guck mich an, du sexy Schlampe, wenn du an mir vorbeikommst.'“

,,Kopf hoch, zeig mir dein hübsches Gesicht!“

Viele der Erfahrungen der Personen auf Twitter hörten nicht bei verbaler sexueller Belästigung auf. Aus Catcalling wurde sehr schnell körperliche sexuelle Belästigung und eine extrem bedrohliche Situation, denn besonders wenn Täter:innen Aufmerksamkeit verwehrt bleibt und die Ausrufe an „Komplimenten“ ignoriert werden, eskaliert die Situation.

,,Ich werde leider oft angehupt und dann werden eindeutige Gesten gemacht oder mir Sachen zu gerufen. Dabei ist es dann egal, ob ich Jogginghose an hatte oder top gestylt war. Danach geht man mit einem ganz merkwürdigen Gefühl weiter.“

Bei Catcalls handelt es sich nämlich nicht um Komplimente, denn Komplimente machen keine Bauchschmerzen oder das Gefühl im Erdboden versinken zu wollen. Komplimente erzeugen keine Angst, bringen einen nicht dazu die Straßenseite wechseln zu müssen, lassen einen nicht darüber nachdenken, wie man sich im schlimmsten Fall am besten wehrt und machen den Aufenthalt in der Öffentlichkeit nicht zu einem Spießrutenlauf.

Es geht hier eben nicht um eine freundlich lächelnde Person, die auf dich zukommt und fragt „Hey, ich find‘ dich wirklich toll und wollte fragen, ob wir Nummern tauschen und uns zum Kaffee treffen können?“ und ein nettes „Trotzdem einen schönen Tag noch“ da lässt, wenn sie abgewiesen wird.

Es geht darum:

,,Ich habe während der Quarantänezeit mit Inlineskating angefangen. Jedes Mal ist mindestens ein Auto neben mir hupend langsamer gefahren, kombiniert mit Sprüchen wie ‚Ey du geile Sau‘.“

,,Ein Mann hat mir in der Altstadt, während ich auf meine Freundin wartete, hinterher gepfiffen und gefragt ‚Bist du schwanger, oder kann ich dich ficken?'“

,,Ich war mit meiner damaligen Freundin in der Stadt und wir haben Händchen gehalten und uns auch geküsst. Wir waren 14 oder 15 und uns wurde ‚Geile Lesben‘ und ‚Hört nicht auf‘ zugerufen.“

,,Ich habe jetzt schon Angst, wenn meine Töchter ins Teenageralter kommen, wenn ich das alles lese.“

Viele dieser Beiträge sind sehr krasse Beispiele für Catcalling und hohe Formen verbaler sexueller Belästigung.

Ich möchte verhindern, dass Täter:innen meinen Text lesen und denken „Naja, ich ruf ja nur nette Dinge hinterher und pfeif mal hier und da.“, denn auch das ist bei den meisten Personen unerwünscht. Auch ein simples Pfeifen löst bei Betroffenen Empörung, Wut, Unwohlsein und bei extrem unsicheren Frauen (zu denen ich selbst auch gehöre) Angst aus. Ich bin müde, die Frage zu beantworten wo Komplimente denn aufhören und wo bereits Catcalling beginnt. Die Frage, mit der man sich befassen sollte ist, wo Catcalling zu handfester sexueller Belästigung wird und die Antwort lautet: Immer.

,,Ich war 14 und mir wurde von einem über 30-Jährigen Zeitungsverkäufer Geld für ‚Einmal ficken hinterm Bahnhof‘ angeboten.“

,,Morgens um 7 Uhr auf dem Weg zur Arbeit und ich habe gegähnt: ‚Ach du willst mir einen blasen?'“

Catcalling beginnt mit einem simplen Pfeifen und Hupen, mit einem „Hey, Süße“ oder „Na, du bist aber schön!“

Das sind nämlich keine Ausdrücke von Wertschätzung und Interesse. Das sind keine Komplimente. Catcalling gilt als Ausdruck von Macht und Dominanz und wird deshalb in der Regel von heterosexuellen Männern ausgeführt. Genau aus diesem Grund, kommen Catcalls meist gezielt in Situationen vor, in denen sich Betroffene in einer Position befinden, in der sie sich nur schwer wehren können. Wenn Täter:innen sich in Gruppen oder im Schutz ihrer Autos befinden, sie den Opfern körperlich überlegen oder die betroffenen Person minderjährig sind. Der Schutz der Dunkelheit und der Mangel an Zeugen in späten Stunden, sowie ein steigender Alkoholpegel, der Täter:innen einen Schwung an Stärke und Selbstbewusstsein schenkt, sind perfekte Voraussetzungen für Catcalling. Häufig werden Personen auch gecatcalled, wenn sie gerade weinen oder emotional überfordert zu sein scheinen.

Täter:innen catcallen also, weil sie es können und sich selbst damit auf ein höheres Podest stellen wollen. Sie tun es nicht, um einer Frau oder anderen Betroffenen ein gutes Gefühl zu geben. Catcalls haben genau so wenig mit Komplimenten zu tun, wie Vergewaltigungen mit Sex.

,,Ich war 22 und Soldat. War auf dem Heimweg von der Kaserne. Ein etwa 40 bis 50-Jähriger Mann hat mich am HBF angesprochen und gefragt, ob ich strammer Kerl nicht mal Lust hätte ordentlich von ihm durchgefickt zu werden.“

,,Ich hatte mal pinke Haare für ein Jahr. Mir wurde hinterher gerufen, dass ich eine ‚geile Schwuchtel‘ wäre.“

Täter:innen merken oft an, dass Verbote ihre Freiheit einschränken würden, man dürfe ja vor allem ‚als Mann‘ gAr NiChTs MeHr SaGeN. Wer sich durch ein Verbot von Catcalling angegriffen fühlt und das Gefühl hat, er dürfe nicht einmal mehr Komplimente an Frauen verteilen, der weiß, dass das was er tut bereits sexuelle Belästigung ist. Der weiß, dass das was er tut nicht mehr okay ist.

,,In der S-Bahn meinte mal ein älterer Mann zu mir, dass ihn ,,meine blauen Haare so furchtbar anmachen“.“

,,Ich war 12 oder 13, trug einen Rock. Ein Mann hatte darunter geguckt und mir dann gesagt, dass er meinen Slip sehr sexy findet.“

In Wahrheit schränkt Catcalling auf der Straße nämlich die Freiheit von Betroffenen ein, nicht die der Täter:innen.

Mir passiert Catcalling nämlich häufig, aber definitiv nicht immer, im Sommer, wenn Täter:innen meine leichte Kleidung lieber auf sich, als auf das warme Wetter beziehen. Mit dem ersten Schritt aus dem Haus lande ich auf dem Präsentierteller. Ich bin gerade auf dem Weg zur Arbeit, zu einem Treffen mit Freunden oder drauf und dran meinen kleinen Neffen vom Kindergarten abzuholen, wenn mir hinterher gepfiffen, gerufen und gehupt wird. Ich fühle mich eingeschränkt in der Art wie ich mich kleide, in der Art wie ich mich schminke, in der Art wie ich mich in der Öffentlichkeit bewege. Durch Catcalling drängen sich Täter:innen in den Personal Space der Betroffenen und zwingen sie tagtäglich in die Defensive, in welcher das Ignorieren von Kommentaren nicht als Abwesenheit einer Reaktion, sondern als passive Aggression angesehen wird, die weitere verbale Belästigungen rechtfertigt.

,,Erster sonniger Tag im Frühling, ich trage einen knielangen engen Rock und warte auf die Tram. Ein Mann stellt sich neben mich „Lust zu ficken?“ Seither warte ich mit Sommerkleidung zwei Wochen länger.“

Uns Betroffenen wird regelmäßig nachgepfiffen, als wären wir Hunde, oder eben Katzen, oder eben auf zwei Beinen laufende Pussies, die ihre Aufmerksamkeit gefälligst auf ihr Herrchen richten sollen, da er sonst böse mit uns wird.

Und ja. Natürlich gibt es Frauen, die Catcalling genießen. Es gibt auch Frauen, die es genießen überraschend Dick Pics in ihren privaten Nachrichten zu finden. Und es gibt Frauen, die es genießen auf der Straße von fremden Männern angepisst zu werden. Das richtige Verhalten besteht jedoch daraus, davon auszugehen, dass man auf eine Frau trifft, die es als sexuelle Belästigung auffasst.

Denn Catcalling ist in meinen Augen gesellschaftlich geduldete sexuelle Belästigung, mit welcher besonders als weiblich gelesene Personen nun einmal lernen müssen klar zukommen, besonders wenn sie Haut zeigen. Es wird als normal angesehen, als etwas, das im Alltag einer ‚herkömmlichen‘ Frau eben vorkommt. Wir führen einen von verbaler sexueller Belästigung dominierten Alltag. Und das muss geändert werden. Es muss zumindest ein Zeichen dagegen gesetzt werden. Und dieses Zeichen wäre, verbale sexuelle Belästigung in Form von Catcalling als eigenen Straftatbestand zu etablieren. Ein Verbot und die strafrechtliche Verfolgung dessen, schützt nicht nur Frauen, sondern alle Betroffenen, besonders die Minderjährigen.

,,Ich werde von wildfremden Menschen oft gefragt was ich denn sei ‚Junge oder Mädchen?‘ und je nachdem was ich dann antworte, entscheiden die dann ob ich ihre Aufmerksamkeit und ihr ‚Kompliment‘ verdiene oder nicht.“

,,Ich, in bestem Dienstanzug, nach dem Melden bei der neuen Kompanie, fahre heim und hol unterwegs noch 2-3 Sachen: ‚Also unter die Uniform würd‘ ich schon gern mal drunter schauen.‘ Mit Kichern.“

Grund dieses Blogeintrags ist nämlich die Petition ‚Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar sein‚. Ins Leben gerufen durch Antonia Quell und zur Zeit der Verfassung dieses Beitrags noch 4 Wochen online. Dieser Text soll idealerweise genug Menschen davon überzeugen die Petition zu unterschreiben und Catcalls, wie in Frankreich, Portugal und den Niederlanden bereits etabliert, zum eigenen Strafbestand machen. Das Gesetz würde sich gleichermaßen auf jedes Geschlecht beziehen und demnach alle von verbaler sexueller Belästigung betroffenen Personen schützen.

,,Der Klassiker: Bauarbeiter pfeifen mir hinterher. Mit Rock und Feinstrumpfhose durch die Innenstadt: Hinterher gerufene Kommentare oder Pfiffe. Wenn ich an manchen Tage keine Energie dazu habe, trage ich keinen Rock, obwohl ich Bock drauf habe.“

,,Mir kamen mal zwei Typen in der Stadt entgegen und wir sind vor einem vollen Außenbereich eines Cafés aneinander vorbei gelaufen. Da meint einer von beiden zu seinem Kumpel laut hörbar: ‚Er ist aber auch ein süßer, lutscht bestimmt gern Schwänze.'“

In meinen Beitrag habe ich Erfahrungen einfließen lassen (in pink), die noch als ‚Catcalling‘ und verbale sexuelle Belästigung gelten. Ich lege allerdings jeder Person ans Herz sich die über 200 Beiträge unter meinem Tweet durchzulesen, um zu sehen wohin Catcalling führt und warum es den meisten Betroffenen derart große Angst macht, sexuell konnotierte Kommentare auf der Straße hinterher gerufen zu bekommen. Und ganz wichtig: Warum man die Petition unterschreiben sollte.

PS: Ich finde es okay, wenn man mich nach dem Lesen dieses Beitrags als „frustrierten Feminazi“ bezeichnet, denn ich bekam schon weitaus Schlimmeres zu hören, und zwar in Form von verbaler sexueller Belästigung auf der Straße.

Cola und Mentos – oder warum Menschen sich selbst verletzen.

!TRIGGERWARNUNG!

!Dieser Text behandelt Selbstverletzendes Verhalten und ist höchst triggernd. Er beinhaltet eine explizite und graphische Beschreibung einer SVV-Situation. Dieser Teil wird visuell abgegrenzt und kann gerne überlesen werden!

In meinem Schlafzimmer stand seit jeher eine kleine Engelsfigur, mit schönen weißen Flügeln, goldenen Löckchen und einem hübschen roten Kleid an. Irgendwann entdeckte ich durch Zufall an ihrer Unterseite eine kleine schmale Öffnung, die in ihren Hohlraum führte. Dort versteckte ich meine Rasierklingen.

Ich kam abends von der Arbeit nach Hause. Der Arbeitstag im Einzelhandel war lang und hart. Meine Arbeitskollegin, mit der ich in der Vergangenheit immer wieder aneckte, machte einen dummen Spruch auf meine Kosten, als ich einen Minusbetrag von 3 Euro in meiner Kasse hatte.

Meine ganze Haut kribbelte vor Anspannung, juckte regelrecht, mein Kopf dröhnte und drohte zu platzen, meine Hände zitterten vor Wut und hätte man mich angesprochen, hätte ich ausgeholt und es genossen. In diesen Momenten fühlte ich mich wie eine Flasche Cola, in die man ein paar Mentos rein geworfen und den Deckel zugeschraubt hat. Man schmeißt sie auf den Boden und kickt sie gegen die Wand, doch sie schafft es nicht zu explodieren. Sie schafft es nicht, den Druck abzulassen.

Bevor ich an diesem Abend irgendetwas anderes tat, lief ich in die Küche, holte ein Geschirrtuch aus der Schublade, schaltete das Radio an, drehte es laut, lief in mein Schlafzimmer, griff zur Engelsfigur und fischte meine Rasierklingen heraus. Aus dem Bad holte ich Desinfektionsmittel, rannte zurück in die Küche und säuberte meine Klingen.

TW *ANFANG der expliziten Darstellung selbstverletzenden Verhaltens (Schneiden)*

Ich legte die Klingen sorgfältig auf ein paar Lagen Küchenpapier und zog mich bis auf die Unterwäsche aus. Selten nahm ich meine Arme, manchmal nahm ich meine Brust, doch normalerweise waren es die Oberschenkel und auch heute sollten sie es sein.

Ich setzte mich auf den Boden und lehnte mich gegen die Wand. Behutsam nahm ich eine der Klingen in meine zitternde Hand, atmete tief ein und atmete langsam wieder aus. Ich bereitete mich auf den Schmerz vor und darauf, das qualvolle Gefühl von Spannung und Druck endlich loszuwerden. Ich war kurz davor den Deckel der Flasche abzuschrauben und die Fontäne an Cola und Mentos in die Luft schießen zu lassen. Ich war bereit mich zu entspannen.

Also setzte ich die Klinge an meinen Oberschenkel, übte entschiedenen Druck auf meine blasse, bereits von zahlreichen Narben in verschiedenen Stadien der Heilung übersäter Haut aus und zog meine Hand langsam nach rechts. Körperlichen Schmerz, habe ich dabei selten gefühlt. Ich beobachtete wie die Haut langsam auseinanderglitt und sich die ersten kleinen Tröpfchen Blut an die Oberfläche kämpften. Die Tröpfchen wurden zu Tropfen und die Tropfen zu kleinen Flüssen, die meine Oberschenkel herunterliefen. Ich setzte einen weiteren Schnitt und noch einen und noch einen. Ich beobachtete wie das Blut aus meinen Schnitten lief. Und mit dem Blut, ging auch die Anspannung. Es war ein Moment der Erleichterung. Heiße Tränen der Befreiung liefen über die Wangen. Mein gesamter Körper entkrampfte und lockerte sich und sobald ich merkte, dass der Druck allmählich nachließ, presste ich das Geschirrtuch auf die Wunden und hörte auf.

Für ein paar Minuten, als ich auf dem Boden saß und wartete bis die Blutung stoppte, fühlte ich mich wirklich gut.

Sonderlich lange hielt dieses Gefühl allerdings nie an.

TW *ENDE der expliziten Darstellung selbstverletzenden Verhaltens (Schneiden)*

Zu diesem Zeitpunkt war ich 20 Jahre alt und somit keine pubertierende Jugendliche mehr, die versuchte mit ihren Verletzungen Aufmerksamkeit zu generieren. Ich bin auf keinen Tumbler-Trend-Waggon aufgesprungen und wollte es nicht tun, weil andere es auch taten oder weil ich ein Emo war und man es als Emo nun einmal tat, um in der Szene dazuzugehören. Ich wollte damit ebenfalls nicht kollektiv mit anderen Bieber-Fans mein großes Idol Justin davon abbringen weiterhin Drogen zu nehmen und wurde auch nicht im Rahmen einer Mutprobe dazu gezwungen. Ich war eine junge Frau mit schwerwiegenden psychischen Problemen, die sich in Momenten der absoluten emotionalen Überforderung nicht anders zu helfen wusste.

Vor ungefähr 3 Jahren habe ich mich also endgültig zum letzten Mal geschnitten. Das erste Mal geschah es bereits mit 13. Ich fing an mit Nagelscheren und den dreckigen Klingen des Anspitzers aus meinem Schuletui. Ich hörte auf mit scharfen Rasierklingen, die ich vor und nach Gebrauch desinfizierte.

Als mir die Idee zu diesem Blogeintrag kam, glaubte ich, dass der zeitliche und emotionale Abstand, den ich zu damals habe, groß genug sei, um ohne getriggert zu werden darüber schreiben zu können. Doch die Hemmungen davor wirklich anzufangen von einer Situation zu erzählen, in der ich mir etwas angetan habe, woran mich meine Narben immer noch konstant erinnern, war groß. Aber hier sitze ich nun und beschreibe eine Situation, die es in meiner Jugend gut hundert Mal gab und merke wie fremd sie mir mittlerweile vorkommt.

Und ich bin erleichtert, erleichtert und stolz.

In diesem Blogeintrag geht es also, wie man bereits vermuten mag, um Selbstverletzendes Verhalten (SVV). Unter SVV werden Handlungen verstanden, bei denen es zu bewusst selbstinduzierten Verletzungen der Haut, !ohne suizidaler Intention!, kommt. Am häufigsten unter selbstverletztendem Verhalten wird das Zufügen von Schnittverletztungen, also das ‚Schneiden‘ oder ‚Ri**en‘ mit Messern, Rasierklingen und Scherben, aufgeführt. Aber auch Verätzungen und Verbrennungen sind häufige Formen von SVV. Betroffene reißen sich die Haare aus, lassen Wunden mutwillig nicht verheilen, beißen und schlagen sich selbst, schlagen ihren Kopf gegen Wände, Trinken giftige und ätzende Flüssigkeiten und drücken Zigaretten oder Streichhölzer auf ihrer Haut aus. Dieses Verhalten kommt vermehrt bei Jugendlichen mit psychischen Problemen und Störungen vor, doch auch ältere Menschen können selbstverletztendes Verhalten entwickeln. SVV ist nämlich kein eigenes Krankheitsbild, sondern tritt als Symptom im Zusammenhang mit psychischen Störungen und Erkrankungen, wie Depressionen, Essstörungen sowie Zwangs- und Angststörungen auf. Personen mit einem mangelndem Selbstwertgefühl oder einer Unfähigkeit ihre eigenen Emotionen auszudrücken und zu regulieren, greifen ebenfalls häufig auf selbstverletzende Verhaltensweisen zurück.

Besonders oft wird SVV mit der Borderline-Persönlichkeitststörung (BPS), einer Störung unter der auch ich leide, verbunden. Doch sich zu schneiden ist nicht gleichbedeutend damit Borderline zu haben und nicht jede Person, die unter Borderline leidet, schneidet sich auch. Neben Selbstverletzungen der Körperoberfläche, kommen bei BPS auch viele weitere breitgefächerte Formen der Selbstschädigung wie Alkohol- und Drogenexzesse, Spielsucht, rasantes Autofahren, riskantes Sexualverhalten, extreme Essgewohnheiten etc. vor.

In diesem Blogeintrag soll es allerdings um allgemeine Selbstverletzung gehen, unabhängig von der Borderline-Persönlichkeitsstörung, welche den Rahmen dieses Eintrags sprengen und Personen, die auch ohne BPS Selbstverletzungen ausüben, nicht die nötige Aufmerksamkeit geben würde, die sie verdienen.

Für Spannungszustände und dem Druck selbstverletzendes Verhalten auszuüben, gibt es grundsätzlich eine ganze Reihe an Auslösern. Jede/r SVV-Patient/-in kann ganz individuelle oder eine ganze Kombination unterschiedlicher Auslöser besitzen. Negative Gedanken und Gefühle, die auf andere Weise nicht ausgedrückt werden können, eigene Aggressivität und Wut, die nur so abgelassen werden kann, sind wohl die gängigsten Auslöser. Oft wird diese soziale Komponente von SVV auch dafür genutzt, seiner Umgebung oder Menschen, die einem etwas bedeuten, seinen psychischen Schmerz durch körperliche Wunden visuell darzulegen, wenn man nicht die Kraft und Möglichkeit besitzt, darüber zu reden. Einige Patient/-innen bestrafen sich für eigene Fehler und subjektives Versagen. Auch die Unfähigkeit positive Ereignisse und angenehme Gefühle zu verarbeiten kann selbstverletztende Verhaltensweisen initiieren. Letztendlich können auch Berichte anderer Betroffener über Traumata und SVV-Verlangen Selbstverletzungen triggern.

Die kurzfristigen positiven Konsequenzen sind wohl ein Grund dafür, warum man nach dem ersten Ausprobieren von SVV immer wieder darauf zurückgreift. Durch die Verletzungen können negative und unangenehme Druck- und Spannungszustände gebessert oder gänzlich beendet werden. Dieser negative Zustand wird dadurch in einen angenehmen Zustand, bis hin zur Trance, umgewandelt.

Das Fatale an der Selbstverletzung ist somit die Suchtgefahr. Betroffene geraten oftmals nach dem ersten Ausführen in einen Teufelskreis, der sich nicht so leicht durchbrechen lässt. Denn Selbstverletzung wirkt wie eine Droge und kann Suchtdruck erzeugen. Der Schmerz durch bewusst erzeugte Verletzungen kann heilsam wirken, da Betroffene kurzzeitig von negativen Gefühlen und Anspannungen abgelenkt werden. Durch Verletzungen des Körpers werden Endorphine als körpereigene Schmerzmittel ausgeschüttet, um unsere Schmerzen erträglicher zu machen. Dies wird bei SVV genutzt, um innere Spannung und Ängste, genau wie schlechte Gefühle und Sorgen, für kurze Zeit abzuschwächen. Der Körper lernt beim nächsten psychischen Tiefpunkt erneut nach dem Entspannung und Frieden bringenden Schmerz zu verlangen.

Doch dieses Gefühl der Entspannung und Erleichterung hielt bei mir nie sonderlich lange an. Das Ablassen der Anspannung und Wut sowie die Entkrampfung meines gesamten Körpers warf mich in diesen Momenten in ein Stimmungstief, ein depressives Loch aus Selbsthass, Reue und Verzweiflung. Die Drogen hörten auf zu wirken und ich schämte mich dafür sie konsumiert zu haben. Es war der Kater am Sonntag-Morgen, der einen schwören lässt nie wieder Alkohol trinken zu wollen. Doch sobald die nächsten Anspannungszustände kamen, ging alles von vorne los.

Erst im Alter von 16 oder 17 Jahren wurde ich im Laufe einer Therapie mit verschiedenen Ersatzhandlungen bekannt gemacht, die mir auch heute noch helfen dem Druck sich zu schneiden zu umgehen und Spannungszustände auf andere und vor allem gesündere Art und Weise aufzulösen. Je nach Stärke und Auslöser der Spannung, gibt es passende Ersatzhandlungen, die man durchführen sollte.

Dass ich erst relativ spät, also rund 3 bis 4 Jahre nach dem ersten Ausführen von selbstverletztenden Verhaltenhaltensweisen und dem ersten Auftreten depressiver Symptome an Hilfe kam, hatte einen besonderen Grund.

Meine Mutter nahm meine psychischen Probleme immer als persönliche Beleidigung gegen ihren Erziehungsstil wahr. Sie tat es als pubertäre Laune ab und reagierte mit Aggression, Wut und Vorwürfen auf meine Narben. „Warum tust du mir das an? Was habe ich falsch gemacht?“ Meine Beteuerungen wirklich Hilfe zu brauchen galten als ‚Theater‘. Meine Probleme wurden als ‚Schwachsinn‘ betitelt und mir wurde vorgeworfen lediglich Aufmerksamkeit zu suchen. Für meinen Vater und meine Schwester war ich wohl zu anstrengend und sie hielten sich aus der ‚Sache‘ raus.

Ich war relativ früh bereit mir psychiatrische Hilfe zu suchen und eine Therapie zu beginnen, was in anderen Familien vermutlich Erleichterung ausgelöst hätte. In meiner Familie wurde es mir aber einfach nicht erlaubt.

Erst als mein Zustand sich über die Jahre immer weiter verschlechterte und eine meiner Verletzungen mich zum Notarzt brachte, fing meine familiäre Situation an, sich zu wandeln. Ich weiß bis heute nicht, was an diesem Tag geschah, doch meine gesamte Familie war wie ausgewechselt und ich vermute bis heute, dass einer der Notärzte mit ihnen sprach und sie anfingen zu verstehen. Ich hab nie gefragt. Ich hab die Veränderung dankend angenommen. Man nahm mich und meine Probleme ernst und wir fingen zusammen an mir Hilfe zu suchen.

Wie bereits erwähnt, glaube ich keine von den Jugendlichen gewesen zu sein, die sich selbst verletzten, weil sie es sich irgendwo abgeschaut haben oder einem Trend folgen wollten, obwohl ich selbst auch im frühen Jugendalter mit SVV angefangen habe.

Junge Menschen sehen oft Narben und Verletzungen bei anderen Peers oder im Internet und machen es ihnen einfach nach. Es gibt Betroffene, die ihre Verletzungen offen zeigen, damit sie bemerkt werden und Betroffene, die sich vor den Augen anderer die Haut aufschneiden oder verbrennen.

Personen, die derart nach Aufmerksamkeit verlangen, denen sollte man, you guessed it, Aufmerksamkeit und Hilfe geben. Jeder Mensch, der seinen Körper bewusst verletzt (sexuelle Vorlieben seien mal dahin gestellt), braucht Hilfe, Unterstützung und jemanden der zuhört. Dumme Fragen, Aggressionen, Vorwürfe und Spott sind das Allerletzte, das diese jungen Menschen brauchen. Eltern oder Freunde, die wütend werden, es als Aufmerksamkeitssucht deklarieren und sich selbst dadurch angegriffen fühlen, sind absolut fehl am Platz. Diese Art der Reaktion auf Selbstverletzendes Verhalten kann gleiches triggern.

Warum wird insbesondere bei Jugendlichen immer von der ‚Suche nach Aufmerksamkeit‘ anstatt der ‚Suche nach Unterstützung‘ gesprochen?

Denn selbst wenn Betroffene sich selbst schneiden, weil sie an Aufmerksamkeitssucht leiden, ist das ein pathologischer Zustand, der nach Klärung und Besserung verlangt.

Ich bin mir mittlerweile sicher, dass man mir hätte früher helfen sollen und können, wenn man mich und meine Probleme bloß ernstgenommen hätte. Und vielleicht wäre mein heutiges Leben dadurch einfacher und von weniger Symptomen geplagt.

Ich möchte mit diesem Blogeintrag den gleichen Beitrag leisten, wie einer der Notärzte damals bei meiner Familie. Ich möchte Eltern, Geschwistern, Verwandten und Freunden von Betroffenen wärmstens ans Herz legen, bei Entdeckung von SVV-Narben unbedingt mit Ruhe, Verständnis und Hilfsbereitschaft zu reagieren. Es kann nicht falsch sein, nachzufragen ob und wie man helfen kann. Ich weiß selbst, wie es sich anfühlt sich nach Unterstützung zu sehnen und keine zu bekommen. Betroffene sollten nicht unter Druck gesetzt werden und Sätze hören wie „Wenn du nicht damit aufhörst, dann…“. Man muss ihnen keine Schuldgefühle oder ein schlechtes Gewissen machen, denn glaubt mir, das haben sie bereits.

Auch wenn es bizarr klingt, gilt die Bereitstellung von Verbandsmaterial, Desinfektionsmittel und Material zur Wundheilung als bessere Unterstützung, als die Wegnahme von Rasierklingen und Messern. Letztendlich gilt es nur Unterstützung zuzusichern, die man auch wirklich bereit ist zu geben, um weitere Enttäuschungen zu vermeiden.

Selbstverletzung ist ein unheimlich intimes und komplexes Thema, welches erfordert, dass Angehörige sich unbedingt ausgiebig darüber informieren, wenn ihnen das Wohlergehen der Betroffenen am Herzen liegt.

Ich habe einige betroffene Personen gebeten mir ihre Erfahrungen und Gefühle in Bezug auf selbstverletztendes Verhalten zu schildern. Ihre mutigen und wichtigen Beiträge zum Thema findet ihr ebenfalls hier auf meinem Blog.

Borderline ist sexy

Du hast Borderline?! Das ist so typisch. Bipolare Frauen und Borderlinerinnen ziehen mich quasi magisch an haha.“

Borderlinerinnen sind anziehend und aufregend. Sie interessieren mich einfach mehr als andere Frauen. Sie sind nicht so langweilig.“

Ich geb’s ja nicht gern zu, aber Frauen, die verrückt sind, finde ich einfach heiß. Borderline ist da perfekt. Im Bett geht es meistens zur Sache.“

Sätze wie diese, oder in ähnlicher Form mit gleicher Kernaussage, habe ich in den letzten Jahren nicht nur einmal von Bekannten und auch Fremden gehört. Ich höre sie immer wieder, ungeachtet dessen ob Menschen von meiner Persönlichkeitsstörung wissen, oder nicht. Besonders häufig höre ich diese Aussagen jedoch von Männern, die mich und mein Leben über Kanäle wie Twitter und Instagram verfolgen und sich in meine Direktnachrichten verirren. In den Nachrichten, die ich bekomme, wird meine Persönlichkeitsstörung ohne Scham sexualisiert und fetischisiert und ich habe mich gefragt, seit wann das okay ist.

Denn ungefähr im Alter von 16 Jahren wurde ich mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) diagnostiziert und jetzt, knapp 7 Jahren später, habe ich nach wie vor damit zu kämpfen.

In diesem Blogeintrag verarbeite ich meine eigenen Erfahrungen hinsichtlich der Sexualisierung von Borderline und anderen psychiatrischen Störungen. Da ich selbst betroffen bin, werde ich mich auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung konzentrieren.

Schau ich mir die allgemeine Symptomatik von Borderline und meine eigenen Symptome an, frage ich mich, was genau an der Störung für manche Personen so anziehend wirkt, denn ich tue mit meiner Krankheit genau das was man mit einer Krankheit nun einmal tut, ich leide. Eventuell gelten psychiatrische Störungen ja für viele Menschen immer noch als exotisch, ausgefallen, exzentrisch und aufregend, da sie anders als somatische Erkrankungen nach wie vor so gut wie totgeschwiegen werden. Vielleicht werden wir aber auch einfach als Herausforderung gesehen oder man verbindet mit ‚crazy girls‘ auch unkonventionellen und ‚crazy‘ Sex.

Möglich ist allerdings auch, dass Personen, die ebenfalls unter psychischen Problemen leiden, sich zu anderen Betroffenen hingezogen und bei ihnen verstanden fühlen. (Was jedoch in den meisten Fällen drastisch nach hinten losgehen und den Zustand beider Personen verschlechtern kann).

Emotional-Instabile Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typ

Es gibt sicherlich viele unterschiedliche Gründe für diese Form der Faszination und Attraktion, wirklich gefährlich jedoch wird es, wenn sich Personen die Symptomatik von Borderline in Beziehungen aktiv zu Nutze machen. Wenn sie verstehen, wie heftig und bedingungslos wir lieben, wie groß die Angst vor dem Verlassenwerden für uns ist, wie abhängig wir von einer Person werden können und wie wir fast oder auch alles dafür tun würden, um nicht verlassen zu werden. Das nährt manipulative Persönlichkeiten und verschlimmert die Symptomatik von Betroffenen erheblich. Diese Menschen fetischisieren eine missbräuchliche Abhängigkeitsbeziehung, in der es nicht darum geht dem Partner auf Augenhöhe zu begegnen, sondern aufgrund seiner psychischen Disposition auszunutzen. In diesem Fall wird sich nicht für unsere psychische Verfassung interessiert. Von Interesse ist nur die Macht, die man über uns ausüben und für eigene Zwecke nutzen kann. In dieser Form der Beziehung geht es um bewusste Ausbeutung und um Missbrauch.

Ich selbst habe mich ebenfalls in der Vergangenheit durch eben so eine Person emotional, körperlich und sexuell ausbeuten lassen, da meine Störung mir weismachte, ich könne ohne die Aufmerksamkeit dieser Person nicht weiterleben und dass die folgenschweren Dinge, die ich mit mir machen ließ, nötig wären, um nicht alleine gelassen zu werden. Bekomme ich nun die Nachricht „Borderlinerinnen ziehen mich einfach an.“, schrillen bei mir mittlerweile alle Alarmglocken.

Nun kann ich nicht mit absoluter Sicherheit beantworten, was vor allem Männer zu den am Anfang des Texts aufgeführten Aussagen verleitet, ich kann allerdings aus meiner Sicht versuchen zu erklären, warum diese Krankheit eben nicht sexy und heiß ist.

Falls jemand von euch sich seltsamerweise nicht mit Cluster B-Persönlichkeitsstörungen des DSM auskennt, hier die Erklärung zu Borderline:

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung wird im Kern durch hohe Impulsivität und Instabilität von Emotionen und der Stimmung, der Identität sowie zwischenmenschlichen Beziehungen charakterisiert. Für Borderliner/-innen existieren nur Extreme, alles ist schwarz oder weiß, großartig oder desaströs. Das Leben mit dieser emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung ist eine einzige endlose Achterbahnfahrt. Man sitzt angeschnallt da, fährt auf und ab und auf und ab und kann nichts dagegen tun. Man kann die Fahrt nicht steuern.

Ich persönlich machte in meiner ‚Karriere‘ als Borderlinerin ständig Erfahrungen mit irrationalen Wutausbrüchen, paranoiden Wahnvorstellungen und Selbstmorddrohungen sowie einem immer wiederkehrendem Gefühl von innerer Leere. Vor allem in zwischenmenschlichen Beziehungen beherrschen die absolute Panik vor dem Verlassenwerden und widersprüchlich dazu, die große Angst vor emotionaler Nähe, mein Handeln. Im Umgang mit anderen Personen bin ich oft sehr unsicher. Es fällt mir nicht leicht einzuschätzen, wie ich auf andere Menschen und meine Umgebung wirken.

Wie viele andere Borderliner/-innen leide ich an einem geringem Selbstwertgefühl, das Selbstbild bröckelt und der Wechsel zwischen Selbstliebe und Selbsthass erfolgt spontan. Denn auch intrapersonell kämpfe ich mit der Konstruktion einer gefestigten Persönlichkeit und Identität, die mir die Impulsivität und Emotionalität der Störung immer wieder einreißt. Ich weiß nicht wer oder wie ich wirklich bin, ändere mein Verhalten und meine Denkweise täglich und verliere mich in meinem eigenen Gefühlschaos.

Borderline-Patient/-innen sind gezwungen sich ihren immensen Gefühls- und Stimmungsschwankungen hinzugeben und leiden aufgrund dessen unter heftigen Anspannungszuständen, die als unerträglich und extrem qualvoll wahrgenommen werden können. Sie verleiten uns dazu Dinge zu tun, die unserem Körper, unserer Psyche und unserem Lebensweg schaden, um die innere Spannung abzubauen.

Für einen Partner oder eine Partnerin, die es ernst mit uns meint und uns wirklich liebt, kann das Zusammenleben mit Betroffenen ein schwer zu ertragender Zustand sein. In den schwersten Zeiten müssen unsere Partner/-innen plötzliche Wutausbrüche, Stimmungsschwankungen, abrupte Zurückweisungen und sogar Selbstmorddrohungen auffangen und aushalten, denn wir suchen außergewöhnlich engen und intensiven Kontakt und werden bereits durch Kleinigkeiten zutiefst verletzt und gekränkt. Borderliner/-innen idealisieren ihre Partner/-innen anfangs, stellen einen Alleinanspruch auf ihre Liebsten und reagieren mit Eifersucht und Aggression, wenn dieser Anspruch nicht erfüllt wird. Es kommt zu irrationalem Misstrauen gegenüber unseren Partner/-innen und Freunden und die Idealisierung von damals wechselt in Verachtung über.

Für diese Menschen ist das nicht anziehend oder aufregend. Es ist ermüdend und kaum haltbar. Viele Beziehungen und Freundschaften halten diese Belastung nicht aus.

Für Personen, die psychische Krankheiten sexualisieren und uns Borderliner/-innen ‚geil‘ finden, ist eine Affäre mit einer erkrankten Person ein kurzzeitiges Abtauchen in eine aufregend berauschende, emotionale Welt. Für Betroffene jedoch, ist es ein Tiefgang ohne Auftrieb. Unser Kopf wird immer schwerer und wir sinken tiefer und tiefer. Wir können nicht Schlussmachen, wenn es zu anstrengend wird und nicht mehr ’sexy‘ ist. Wir können unseren Kopf nicht einfach abwerfen und zurücklassen.

Die Störung zu sexualisieren ist respektlos gegenüber allen Betroffenen und ihren Angehörigen, denen langsam die Kraft ausgeht.

Versteht mich nun bitte nicht falsch, denn ich werde wirklich gerne als sexy und attraktiv bezeichnet, allerdings abseits von der Krankheit, von der ich jeden Tag versuche mich zu distanzieren. Borderline legt mir immer wieder Steine in den Weg und lässt mich aus Impulsivität Dinge tun, die ich eigentlich gar nicht möchte. Ich verbringe beinahe jeden Tag mit dem Versuch, zu identifizieren was zu meiner wirklichen Persönlichkeit und was zu meiner Störung gehört, sofern das überhaupt möglich ist. Nennt man mich aufgrund meiner Krankheit sexy, nimmt man mir wieder ein Stück ‚Ich‘ weg, das ich mir mühsam erarbeiten muss. Ich versuche jeden Tag meine Identität und Persönlichkeit aufs Neue zu festigen, ich gebe mein Bestes nicht aus einer Gefühlslage oder Impulsivität heraus zu agieren, sondern festzulegen, was für mich selbst und mein Leben am besten ist.

Es ist ein konstanter Kampf gegen meinen eigenen Kopf. Fetischisierung der Persönlichkeitsstörung diskreditiert diesen Kampf und nimmt mir den Wind aus den Segeln. Borderline ist nicht schön, weder von innen noch von außen, weder für mich selbst noch für Außenstehende. Borderline darf einfach nicht sexualisiert werden, denn Borderline ist nicht sexy. Unser Leid muss ernst genommen werden.

Ich hoffe, dass ein paar jener Männer aus meinen Direktnachrichten, sich, wenn sie auf diesen Blogeintrag stoßen, in den oberen Aussagen wiedererkennen und idealerweise für sich reflektieren, warum sie diese Aussagen überhaupt trafen.